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nahm sie das geliebte Buch an sich.

      »Was fällt dir denn um Himmels willen ein!« rief sie.

      »Weil du nur ›Die zertanzten Schuhe‹ gelesen hast!«

      ›Die zertanzten Schuhe‹ waren ein ziemlich kurzes Märchen, und Friederike wünschte es sich nie, wenn sie ein Märchen aussuchen durfte. Sie erkannte es aber an den Bildern und hatte an dieser Stelle angefangen, die Blätter herauszureißen. Regine war sehr bestürzt, sammelte die Fetzen ein und klebte sie mühevoll wieder zusammen. Der Mutter erzählte sie zunächst nichts.

      Aber auch den Eltern war Friederikes Veränderung aufgefallen. Die Mutter meinte, sie sei einfach ungezogen.

      »Vielleicht wächst sie«, sagte der Vater, der kein Krankheitssymptom an ihr feststellen konnte. Dann aber geschah etwas, was nicht verborgen bleiben konnte: der Kutscher meldete, daß Fräulein Friederike, wie er sagte, ihm das Beil gestohlen habe. Er brauche es aber zum Holzhacken. Mutter schickte Regine, um nach der kleinen Schwester zu sehen. Sie fand sie im oberen Flur, wo das Kind dabei war, das Pferdel zu zertrümmern. Die Beine waren schon abgeschlagen – eigentlich eine erstaunliche Leistung für ein so junges Kind. Regine erschrak heftig, sammelte die einzelnen Teile ein und trug sie hinunter zur Mutter. Auch die Mutter war entsetzt.

      »Das darf Vater nie erfahren«, sagte sie und tupfte sich die Augen aus, »lauf schnell zum Nentwig, er soll herkommen, ich will mit ihm sprechen.«

      Regine gehorchte, und Mutters verzweifelte Bitten, hier helfend einzugreifen, rührten den alten Handwerker sehr. Er versprach, alles wieder in Ordnung zu bringen, und nahm mit, was vom Pferdel noch übrig war.

      »Keene Sorge, ich mach’s schunt«, beruhigte er Mutter, die ganz verstört war von der Gewalttätigkeit ihrer kleinen Tochter. Als er gegangen war, berieten sich die beiden Frauen.

      Daß Vater nichts davon erfahren dürfe, war beiden klar. Regine meinte, man müsse die Kleine tüchtig »aus den Lumpen schütteln«, wie man dort sagt; die Mutter aber war für Geduld.

      Vielleicht war das falsch. Wenn eine von ihnen einmal richtig mit dem Kind gesprochen hätte – »sieh mal, Regine freut sich auf ihren Bräutigam (diese Vokabel benutzte man damals noch), sie will mit ihm ein neues Leben anfangen und kennt ihn noch sehr wenig, aber sie denkt immerzu an ihn; das geht einem so, wenn man verlobt ist« oder so ähnlich. Vielleicht hätte das Kind das schon verstanden. Auf diese Idee aber kam keine von ihnen.

      Denn es war so: Die kleine Schwester war für Regine an den Rand des Bewußtseins gerutscht, das spürte das Kind und litt darunter. Immerhin unternahm Friederike keine weiteren Handgreiflichkeiten, sah aber blaß und verstört aus und fand sich erst langsam wieder zurecht. Regine lief mit roten Backen und bemehlter Schürze umher, buk Kuchen, stellte Salate zusammen, zählte die Tage und Stunden und befand sich in einem Rausch, als ein Telegramm eintraf: »Ganymed, Zeile zwanzig.«

      »Was kann das heißen?« fragte sie. Ihre Mutter wußte es sofort. Sie war eine große Goetheverehrerin, konnte den ersten Teil des Faust fast ganz auswendig, dazu den gesamten Westöstlichen Diwan und sehr viele andere Gedichte.

      »Wenn ich mal nach Weimar käme, das wäre, wie wenn ein gläubiger Katholik nach Rom führe«, sagte sie manchmal.

      Jetzt wußte sie gleich, was gemeint war.

      »Ich komme, ich komm’ –«

      Regine riß den Band mit den Goethegedichten aus dem Regal, um sich zu vergewissern. Und siehe, die Mutter hatte recht. Da stand: »Ich komme, ich komm’ –«

      Martin war die Nacht durchgefahren und erschien mit dem ersten Zug. Der Vater hatte den Kutscher mit Regine, die sich das nicht nehmen ließ, zur Bahn geschickt. Sie strahlte mit dem Morgen um die Wette.

      Unvergeßlich blieb ihr Martins Begegnung mit der Mutter. Er beugte sich tief über ihre Hand, und sie weinte ein bißchen, aber es waren glückliche Tränen.

      »Du hast mir ja gar nicht gesagt, wie schön deine Mutter ist«, sagte Martin später. Regine lächelte glücklich. Ihre Mutter und Martin verstanden sich auf den ersten Blick, beim ersten Wort. Sie sah es ohne Eifersucht und mit tiefer Freude. Diese Liebe von Schwiegermutter zu Schwiegersohn blieb gleich stark, solange die Mutter lebte.

      Es war ein Sonnabend, an dem Martin kam. Sie frühstückten auf der Veranda, eine unvergeßlich schöne Stunde in der Frühlingssonne. Die Mutter fragte, ob Martin sich nicht hinlegen wolle. Aber er versicherte, er sei gar nicht müde, er habe die ganze Fahrt über geschlafen, und wenn Regine einverstanden sei, wolle er lieber ein Stück mit ihr Spazierengehen.

      Und ob sie einverstanden war! Sie trug ein weißes, fußfreies Kleid und einen großen weißen Hut; Martin fotografierte sie darin, es wurde ein reizendes Bild, das jahrelang in einem Rahmen auf dem Klavier des jungen Paares stand. Eine etwas säuerliche, Regine nicht sehr zugetane Tante bedachte es mit dem Ausspruch: »Im günstigsten Moment«, was die Familie lachend übernahm. Regine war damals sehr hübsch.

      Sie gingen los. Wohin? Natürlich »aufs Schloß«, wie man dort sagte, es war der schönste Spaziergang. Erst durchs Dorf, an Dempes Laden vorbei – diesmal vorbei und nicht hinein, Regine wollte dieses erste Wiedersehn mit Martin allein erleben –, über die kleine Brücke, die den Mühlengraben überspannte. Am Anfang und Ende der Brücke standen, wie heute noch, die beiden steinernen Heiligen. Einerseits der Florian, der gegen Feuer hilft – »Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andere an –«, hieß es so menschenfreundlich, er stand und goß steinernes Wasser auf ein winziges steinernes Haus. Regine erzählte Martin die alte Geschichte, mit der man die Kinder foppte. Wenn man frühmorgens nichts ißt, danach schweigend dreimal um die Kirche geht und zuletzt vor dem Heiligen niederkniet und sagt: »Heiliger Sankt Florian, was hab’ ich heut gegessen?«, dann sagt er – sie verstellte ihre Stimme, daß sie tief und männlich klang: »Nächts.«

      Martin lachte, zog sie im Dämmerlicht des Brauertors, durch das sie jetzt gehen mußten, an sich und drückte ihr schnell einen Kuß auf den Mund, den allerersten. Regine wurde rot vor Freude und Geniertheit.

      Auf der anderen Seite der Brücke stand der heilige Nepomuk, kenntlich am Strahlenkranz, den er immer ums Haupt trägt. Dann kam man auf den großen Kirchplatz, wo die alte Kirche steht. Regine zog Martin gleich hinein. Sie liebte, wie jeder in der Familie, diese Kirche über alles. Flüsternd erzählte sie Martin all das, was sich hier zugetragen hatte. Und ging mit ihm, eng eingehakt, von einem Heiligenbild zum andern.

      Schlesien ist reich an Barockkirchen, diese aber ist besonders schön. Ein verständnisvoller Geistlicher hatte alles Bunte daraus verbannt und die Figuren in Weiß und Gold gehalten. Da gab es Heilige, die durch ihr Martyrium berühmt geworden waren: einer trug seinen abgeschlagenen Kopf auf einem Buch vor sich her, ein anderer drehte sich mit einem merkwürdigen Instrument den Darm aus dem aufgeschlitzten Bauch.

      »Den mußte ich als Kind immer ansehen, es gruselte mich dann so schön«, flüsterte Regine. Die Kanzel hatte ein Dach, auf dem eine Leiter stand, die Jakobsleiter, und auf dieser stiegen kleine steinerne Engel, dikke, überernährte Putten, auf und nieder.

      »Der Alte Fritz war oft hier, er war mit dem Abt befreundet«, erzählte Regine eifrig, »einmal fragte er ihn, warum die Engel denn eine Leiter brauchten. Sie hätten doch Flügel. ›Ja, Majestät‹, antwortete der Abt – er hieß Tobias Stusche – ›sie waren damals wahrscheinlich gerade in der Mauser!‹«

      An einer der dunklen Bänke aus Holz stand:

      »Hier stand und sang Friedrich, der Zweite, der Große, als Mönch verkleidet, während die Österreicher die Kirche nach ihm durchsuchten.« Der Abt hatte ihn schnell in eine Kutte gesteckt und mit den Mönchen in die Kirche ziehen lassen. Wie anders wäre die Geschichte verlaufen, wenn er nicht diese rettende Idee gehabt hätte! Den Adjutanten fanden die Feinde hinter dem Hochaltar. Er hieß von Glasenapp.

      »Und draußen an der Prälatur, das sind solche Pfeiler mit kleinen Bänken, dort hat er gesessen und Flöte gespielt.«

      »Du kanntest ihn wohl persönlich?« fragte Martin lächelnd.

      »Ich

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