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Ausdruck solch ein Tiergesicht erleuchtet. Nentwig, der sonst ganz nüchterne Dinge herstellte oder reparierte, hatte wohl einen glücklichen Moment gehabt. Das Gesicht des kleinen Pferdes hatte einen sprechenden Ausdruck, wenn man so sagen will, der Doktor jedenfalls erkannte es. Und seine vom vielen Waschen gebleichte Arzthand fuhr dem Pferdchen über die Mähne, sacht, zärtlich.

      »Daos habt er aber schien hingekriegt«, sagte er halblaut, bewundernd, dankbar. »A su a schienes Feadel –«

      »Nu jaja, nu nee«, sagte der Handwerker verlegen, aber auch geschmeichelt, »es ies doch für damals, Herr Rat ...«

      Als der Vater heimkam, sah Mutter ihm sofort an, daß er etwas Besonderes erlebt hatte. Sie fragte nicht, aber sie wußte: jetzt kommt was.

      »Ich hab’ was gesehen, für den kleinen Fritz –« und nun erzählte er. Alle drei, Mutter, Regine und Schorschel, lauschten atemlos.

      »Und was krieg’ ich?« krähte Schorschel, als sein Onkel schwieg. Der fuhr auf ihn los, sich berserkerhaft wütend stellend: »Prügel! Ab morgen ist es dem Vormund verboten, seine Patenkinder durchzuhauen. Komm, wir machen es heute noch ab, auf Vorrat –« Er hatte die Hundepeitsche genommen, die ›neunschwänzige Katze‹, wie sie in der Familie hieß. Sie wurde nie benützt; woher sie stammte, wußte keiner. Schorschel rannte schreiend davon, rund um den Tisch, Vater mit der Peitsche hinterher.

      »Jesses, Kinder, muß das sein –« Mutter vertrug keinen Lärm. Sie hielt sich lachend die Ohren zu. Auch Vater, Regine und Schorschel lachten.

      Gegen elf setzte sich Schorschel, der zum ersten Mal aufbleiben durfte, in den großen Lehnstuhl, der Uhr gegenüber.

      »Bist du müde?« fragte Mutter Haberland.

      »Aber nein. Hier sitzt sich’s nur so schön. Eine Stunde noch.«

      »Schlaf ja nicht ein!« mahnte Regine. Schorschel grinste.

      »Ich werd’ doch das neue Jahrhundert nicht verschlafen!«

      Viertel vor zwölf war er noch wach. Als um zwölf die Glocken läuteten – Regine hatte die weißgefaßte Glastür zur Veranda geöffnet, damit man sie gut hörte –, schlief er fest und ließ sich nicht mehr wecken. Die drei andern lachten. Sie küßten einander und wünschten sich ein gutes neues Jahr, Jahrzehnt und Jahrhundert.

      Vater und Mutter blieben noch lange wach, als Regine schon schlafen gegangen war. Schorschel ließen sie in seinem Lehnstuhl sitzen. Sie sprachen von früher, von jetzt, von später.

      Was würde das neue Jahr bringen?

      In dieser Silvesternacht tat Mutter etwas, was keiner bemerkte. Sie behielt das gegossene Stück Blei in der Hand und legte es keinen Augenblick weg. ›Wie eine Wiege‹, hatte Schorschel gesagt und ›wie ein Pferd‹ der Vater. Sie, die Mutter, sah etwas anderes darin. Etwas Großes, Plattes.

      Ein Buch.

      Bücher gab es genug im Doktorhaus. Neulich aber hatte Gustel, die Botenfrau des Dorfes, die jeden Tag nach Frankenstein fuhr, um Besorgungen zu machen, ein großes, dickes Buch mitgebracht, ein Märchenbuch. Die Märchen der Gebrüder Grimm.

      Mutter hatte es betrachtet und sogleich an sich genommen. Sie besaß eine Truhe, in der sie Geschenke sammelte, da hinein tat sie es. Jetzt nahm sie es, als Vater gerade den Punsch ansetzte, unauffällig wieder heraus, schlug es auf und überlegte. Dann schrieb sie mit ihrer ausgeschriebenen und trotzdem leserlichen und schönen Handschrift auf die erste leere Seite:

      »Ein gesegnetes Leben denen, die nach uns kommen.

      In der Silvesternacht 1899 zu 1900.«

      Marie Haberland.

      Dr. Haberlands Schlafstube hatte vier Fenster nach der Straße hinaus, auf der noch keine Autos oder gar Laster lärmten. Der Doktor hatte die Lage so gewählt, weil nächtens Hilfesuchende, die sonst hätten läuten müssen, gleich rufen oder ›Steindel schmeißen‹ konnten. Er fluchte oft gottsjämmerlich, wenn er geweckt wurde, ging dann aber doch ans Fenster, rief hinunter, er komme, und machte sich auf. Seine Frau schlief meist nicht mehr ein, bis er wieder zurück war. So ist das in Doktorhäusern.

      Eines Tages ereignete sich wegen der Lage der Schlafstube eine etwas peinliche Geschichte, die allerdings auch Grund zum Lachen gab. Dr. Haberland hatte mit einem Kollegen, Dr. Schulz, und dessen Sohn, der gerade das Physikum gemacht hatte, zusammengesessen und gefeiert, und es war etwas spät, besser: früh geworden. Wenn man erst um fünf heimkommt, steht man nicht gern um halb sechs auf, weil ein werdender Vater unterm Fenster steht und um den Besuch des Doktors bittet.

      »Der Duktor Haberland is nie ze Hause«, rief Vater aus dem Fenster, »gehnse ock zum Duktor Schulz, der is schon uffe.«

      Der Bittende befolgte diesen Ratschlag. Ein paar Tage später half Vater Haberland einem anderen Kind auf die Welt. Die Hebamme sah ihn ein wenig zweifelnd von der Seite an. Vater fragte, was denn los sei.

      »Ja, mir hat vorgestern eener, den ich nach Ihnen schickte, erzählt: Der Duktor Haberland is ni dao, aber a fremder Herre war in seinem Schlafzimmer und hat mr Bescheid gegeben, ich sullte zum Duktor Schulz gehen.«

      Über diese Geschichte lachte die ganze Verwandtschaft.

      In seiner Schlafstube hatte der Doktor eine Dusche einbauen lassen. In der Ecke unter der Stubendecke befand sich ein Wasserkasten, den der Kutscher jeden Tag füllen mußte. Zog man an einer Schnur, so ergoß sich das Wasser auf den Darunterstehenden. Vater empfahl diese Art der Morgenerfrischung seinen Nachkommen, und keiner war da, der widersprach. Es ist allen bestens bekommen.

      In dieser nicht sehr hellen Schlafstube kam Haberlands zweites Kind zur Welt, neunzehn Tage nach jenem Silvesterabend, an dem Schorschel ziemlich verächtlich »wie ’ne Wiege« gesagt hatte, als er das prophetische Stück Blei betrachtete, und er schrie, als er es hörte: »Set ersch, ich hoas zuerscht gewußt!«

      »Ihr habt ein Schwesterle bekommen«, verkündete Vater ihm und Regine. Keinen kleinen Fritz. Regine sah den Vater an: War er enttäuscht?

      O nein. Vaters Augen strahlten. Die Geburt war nicht leicht gewesen, aber Mutter und Kind lebten, und nun war alles gut. Regine fiel dem Vater um den Hals, sie ahnte wohl, daß sie in dieser Nacht hätte mutterlos werden können, und sie freute sich über das Schwesterchen fast noch mehr als über einen Bruder.

      »Nur – wir haben ja keinen Namen! Wie wär’ es mit einer kleinen Friederike? Immer haben wir vom kleinen Fritz gesprochen, und jetzt –«

      »Jetzt ist es eine Dame, und vielleicht bringt sie uns eines Tages einen Schwiegersohn mit Namen Fritz ins Haus.«

      Vater zog die große Tochter ins Schlafzimmer an Mutters Bett. Die dicke Grulichen, die Hebamme, war auch da, räumte im Zimmer auf, begrüßte Regine respektvoll und ließ sie in den Stubenwagen gucken, der neben Mutters Bett stand. Ein Köpfchen, schwarz behaart, und zwei nach oben gerichtete Fäustchen. So klein, so klein ...

      Dann beugte sich Regine über ihre Mutter, legte einen Augenblick ihre Wange an deren Gesicht. Ein heißer Tropfen fiel darauf, war’s Glück, war’s Angst, war’s einfach Rührung? Eine kleine Schwester – nun war sie nicht mehr die »Einzige« ihrer Eltern. Das war schön – und schwer, wie alles Große und Wunderbare auf dieser Welt. Regine erfuhr es in jungen Jahren.

      Die Mutter erholte sich langsam, Regine pflegte sie treu. Es waren zwei Dienstmädchen im Haus und der Kutscher für die schwere Arbeit, trotzdem war die Siebzehnjährige überfordert. Sie schlief in dem Zimmer neben der elterlichen Schlafstube, und manchmal, wenn der Vater nachts von einem Patientenbesuch heimkam, saß sie in ihrem Bett, hatte ihr Kopfkissen in den Armen und wiegte es wie ein Steckkissen, wobei sie »Pschpsch« machte. Nebenan schlief Friederike tief und fest.

      Mutter konnte nicht stillen. So mußte Regine für die Babyflaschen sorgen, mit denen die Kleine gefüttert wurde, mußte Windeln wechseln und Badewasser holen, sich um das Essen kümmern und den Vater beruhigen, wenn er aus dem Mariannenhaus kam. Er hielt früh Sprechstunde daheim, ging dann ins Krankenhaus und kam zu unregelmäßigen Zeiten zurück, verlangte

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