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und kam erschöpft und todmüde heim. Friederike wurde von den Eltern nach langem Überlegen in ein Internat nach Gnadenfrei geschickt, es ging und ging nicht mit den beiden Schwestern. Und dann kam die Grippe.

      Erst hieß sie die Spanische Grippe und dann Influenza. Es war erstaunlich, wie schnell auch auf dem Lande, wo es immer noch mehr zu essen gab als in der Stadt während der Steckrübenwinter, die Menschen geschwächt und schnell umgeworfen wurden. Viele starben. Die Ärzte, überfordert, versuchten der Krankheit Einhalt zu gebieten, aber auch in die Arzthäuser drang sie ein, diese neue Geißel Gottes. Im Haberlandschen Haus war es Iso, die am heftigsten von ihr befallen wurde. Sie fieberte hoch, phantasierte, behielt nichts bei sich und wurde von den schrecklichsten Träumen geplagt. Aber damals merkte sie, daß ihre Mutter Regine auch sie zu lieben schien. Einmal wachte sie auf und sah die Mutter an ihrem Bett sitzen und weinen.

      »Was ist denn?« fragte sie erschrocken.

      »Ach ich – ach Iso –«, die Mutter hielt inne. Iso war tief erschrocken. Nach einer Weile fragte sie halblaut, schüchtern, gewöhnt, als das kleine Dummerle angesehen zu werden: »Du, Mutter, wenn man jemanden küßt, der die Grippe hat, kriegt man sie dann selbst?«

      »Das kann schon sein«, erwiderte die Mutter.

      »Und der andere wird gesund? Man küßt sie ihm ab?« fragte Iso weiter.

      »Ach nein, Isokind, leider nicht. Wie gern würde ich sie dir abküssen«, flüsterte die Mutter.

      Das vergaß Iso nie. Mutter mußte wohl auch sie gern haben, nicht nur den hübschen, gescheiten älteren Bruder und das süße kleine Knuddelkind.

      Auch Großmutter wurde krank. Großvater ging es schon eine Weile schlecht, doch er sprach nicht darüber, er gehörte zu den Ärzten, die die eigene Krankheit leugnen; er operierte noch mit neununddreißig Grad Fieber. Kurzum, es war eine Zeit voller Ängste.

      Regine, auch überfordert, achtete wenig auf Iso, und so stand diese zu zeitig auf, angeblich, um der Mutter keine Mühe zu machen. Die Folge war ein übler Rückfall. Sie mußte wieder ins Bett, keiner hatte Zeit für sie, Alexander, vorläufig noch gesund, nützte die Zeit ohne Aufsicht und trieb sich im Dorf herum.

      In den Zeitungen standen schlimme Dinge. Großvater, der viel über Politik sprach, erging sich in den düstersten Prophezeiungen. Er sollte recht behalten.

      Iso lag in der ›Martinsklause‹, wie das Zimmer genannt wurde, in dem Martin gewohnt hatte, und war viel allein. Über ihrem Bett hing eine quadratmetergroße Deutschlandkarte, die Karte des Deutschen Reiches von damals, von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Unvergeßlich prägte sich ihr die Gestalt dieses Landes ein, die Zipfelmütze des schmalen Memellandes, die Verbindung Ostpreußens mit dem Reich, die dann sehr bald durch den polnischen Korridor unterbrochen werden sollte, Schlesien, herausragend in der Gestalt eines Eichenblattes, mit dem kleinen, viereckigen Auswuchs, der Grafschaft Glatz. Die Oder, ihre Nebenflüsse – Oppa, Zinna, Hotzenplotz – diese hatten sie in der Schule auswendig lernen müssen. Iso schaute und schaute, und wenn sie einschlief, sah sie noch immer das Land vor sich. Es war, als sollte sie Abschied nehmen und es sich deshalb noch einmal ganz fest einprägen, für immer, für ihr ganzes Leben. Deutschland und Schlesien, ihre Heimat.

      Abschiednehmen tut weh. Iso weinte oft, aus Schwäche, aus Angst vor der Zukunft, in der sie sich bucklig sah, aus einem Gefühl der Verlassenheit heraus. Einmal fand Heidi sie so. Heidi, die ihr erstes Kind erwartete und dadurch noch stärker, noch positiver, noch zukunftsgläubiger war als sonst, setzte sich erschrocken und voller Mitleid an Isos Bett, nahm deren fieberheiße Hände in die ihren und lächelte in Isos Augen hinein.

      »Iso, Isomädchen, wer wird denn weinen! Komm, sag mir, was los ist. Sag es mir. Du bist nicht allein.«

      Ein Strom von Tränen. Aber bereits der tat wohl. Heidi ließ sie weinen.

      »Ich hab’ so Angst ...«

      »Wir jagen die Angst fort. Ich helf’ dir dabei. Was glaubst du, welche Angst die Verwundeten haben, daß sie wieder an die Front müssen oder geschädigt und nicht mehr voll arbeitsfähig entlassen werden! Grad heute las ich in einem zerfetzten Buch, das ein Soldat jahrelang im Tornister mitgeschleppt hatte, durch alle Schrecklichkeiten der Front:

      Laß doch das Sorgen sein,

      das gibt sich alles schon,

      und fällt der Himmel ein,

      kommt doch eine Lerche davon.

      Es ist von Goethe. Glaub mir, auch damals gab es Gründe, Angst zu haben. Das gab es immer, in jedem Jahrhundert. Wir sind keine Ausnahme.«

      »Ach Heidi, du – ja du! So schön, wie du bist! Aber ich – ich werde bucklig –« Jetzt war es heraus. Iso hatte es bis dahin niemals ausgesprochen.

      »Du, bucklig? Wie kommst du denn auf die Idee?«

      Nun endlich war die Schleuse geöffnet. Iso schluchzte und schluchzte. Und unter dem stoßweisen Weinen kam zutage, was sie ängstigte: Sie habe gehört, wie ihre Eltern sich unterhalten hätten, daß sie würde wie die Hase-Rosa oder wie die Bine, keiner würde sie liebhaben, nie würde sie heiraten und Kinder bekommen ...

      Heidi ließ sie erst einmal alles herausweinen, ohne ihre Hände loszulassen. Als nichts mehr kam, legte sie ihr Gesicht an Isos Wange, ganz dicht, ganz nahe.

      »Hör zu, Iso, ich erzähl’ dir was«, sagte sie leise. »Mir ist es ähnlich gegangen. Nicht, weil mir jemand prophezeit hat, was deine Eltern gesagt haben – sie sagten bestimmt nicht, du würdest verwachsen, sondern befürchteten es nur –, bei mir war es anders. Ich bin mal dumm gestürzt, ganz dumm, von einem Wagen herunter – und hab’ mir die Wirbelsäule verletzt. Ich mußte ein halbes Jahr in Gips liegen. Ich sag’ dir, das war eine Qual. Und niemand weit und breit konnte mir sagen, ob ich mich wieder würde bewegen können wie vorher. In diesem halben Jahr hab’ ich gelernt, trotzdem zu hoffen, zu beten, nicht aufzugeben. Und als ich aus dem Gips herauskam und Übungen machen mußte, die mir sehr, sehr schwerfielen, da hab’ ich gelernt zu wollen. Und wenn man beten und hoffen und wollen gelernt hat, so schwer es einem auch fällt, dann hat man schon gewonnen. Willst du es versuchen?«

      »O Heidi!«

      »Sieh mal, ich bin den ganzen Tag mit Männern zusammen, die verletzt sind. Die meisten von ihnen wissen nicht, ob sie wieder gesund werden. Da ist mancher, der aufgeben möchte. Immer, immer muß ich dagegenhalten, trösten, ermutigen. Es gibt eine chinesische Geschichte, da jammert ein Mann, weil er keine Schuhe hat. Und dann trifft er einen, der hat keine Füße.

      Du hast noch alles, Isokind, was man zum Leben braucht, und sollte sich wirklich herausstellen, daß du eine Neigung hast, nicht ganz gerade zu wachsen – ich sage: sollte; ich selbst glaube es nicht, und ein bißchen von diesem Handwerk verstehe ich ja auch –, dann kann man mit Hoffen und Wollen viel erreichen. Viel? Alles! Berge versetzen. Glaubst du mir das?«

      Iso sah sie an, die geliebte und bewunderte Freundin. Frisch und jung, stark und gläubig saß sie da auf dem Bettrand, leuchtend und schön. Iso wußte, daß sie ein Kind erwartete, sie hörte sie früh im Bad röcheln und würgen. Wenn sie herauskam, wischte sie sich Augen, Mund und Nase und lachte: ›So, das hätten wir wieder mal!‹ Und ihre warmen, trockenen, starken Hände taten so wohl.

      »Ich will werden wie du, Heidi«, sagte Iso voller Begeisterung. Heidi lachte und gab ihr einen Kuß auf die Nasenspitze.

      Eines Tages kam der Großvater von einem Krankenbesuch zurück und brachte einen Hund mit, einen halberwachsenen, schwarzweißen, sehr schmutzigen Foxterrier.

      »Da, zum Rattenfangen«, sagte er und ließ ihn in die Eßstube springen. Der kleine Hund lief zielbewußt auf die Großmutter zu und sprang mit einem Satz auf ihren Schoß. Dort blieb er sitzen, an sie gekuschelt, und hob das Schnäuzchen zu ihr empor.

      »Ach lieber Gott, du kleines Kerlchen!« sagte sie und lächelte ihn an. Sie machte sich nicht viel aus Hunden, aber alle Hunde liebten sie. Immer liefen sie sofort zu ihr, wenn Dr. Haberland einen anbrachte.

      Im

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