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nicht sehr passend fand.

      »Nirdel – wenn du das auf der Straße rufst!« sagte sie leicht entrüstet. »Entweder die Leute denken an einen Nierenbraten oder an eine Operation.«

      Iso kannte alle Geschichten, die Großmutter von früheren Hunden erzählte. Wie die Hunde den heimkehrenden Doktor begrüßten, wie Loki, wenn Großvater »Potschen!« rief, sogleich ins Schlafzimmer schoß und die warmen Hausschuhe holte, einen nach dem andern, und dem Herrchen brachte. Großvater war gut Freund mit den Hunden, verwöhnte sie aber, statt sie zu erziehen. Bei Tisch stellte er, wenn er satt war, seinen Teller mit den Resten auf die Erde, und der jeweilige Hund fraß ihn leer. Er als Arzt!

      »Jesses, Rudolf, das kannst du doch nicht machen!« schalt die Großmutter und gab der hereinkommenden Marie einen Wink, diesen Teller nachher extra und doppelt abzuwaschen.

      »Jesses, Rudolf!« hörten die Kinder manchmal. Es war Großmutters halb resignierter, halb amüsierter Ruf, nie klang er aggressiv, immer irgendwie verdeckt zärtlich. Auch der Großvater hatte einen Standardseufzer, der aber klang oft verzweifelt, vor allem wenn er die Zeitung gelesen hatte und sie fortwarf. »Ach Jerusalem!«

      Als Iso aus der Schule kam, stürzte sie sich sogleich auf den Hund.

      »Gehört er uns?« juchzte sie entzückt. »Wie heißt er denn?«

      »Schuftel«, sagte Großmutter.

      »O Schuftel, mein Schuftel! Darf ich ihn baden?« Die ganze Liebe, die Mutter bei Iso der kleinen Schwester gegenüber vermißte, häufte die Tochter nun auf den Hund.

      »Aber Ratten muß er fangen, hörst du!« sagte Großvater. »Sonst kommt er wieder weg!«

      »Er wird schon«, sagte Iso, als kenne sie ihn bereits seit Jahren.

      So wurde Schuftel Isos Hund.

      Die Liebe zu ihm überstieg bei ihr alle Grenzen. Damals bereits wuchs in Mutter Regine die Sorge um dieses Kind, das so leidenschaftlich zu lieben vermochte. Ihr Vater nannte es ›hemmungslos‹, ohne zu verstehen, daß Iso sehr wohl gehemmt war, weil sie in der Familie die problematische Stellung des mittleren Kindes einnahm. Regine, deren Leben bürgerlich und in gemäßigten Grenzen verlief, entsetzte sich über die Leidenschaft, zu der Iso fähig war.

      »Sie muß streng gehalten werden«, meinte sie und nahm sich vor, so zu handeln. Iso sollte dies ihre ganze Jugend über spüren.

      Die Mutter begann sofort, ihre Vorsätze auszuführen. Es kam zum Beispiel nicht in Frage, daß der Hund in Isos Zimmer schlief. Er würde ins Bett wollen; das durfte keinesfalls geschehen. ›Dürfen‹ oder besser ›nicht dürfen‹ wurde für Jahre der Tenor in Isos Leben.

      Die Liebe zu diesem Hund war wahrhaftig grenzenlos. Immerzu saß er auf Isos Schoß; sie sprach mit ihm in einer nur ihr und ihm verständlichen Sprache und dichtete ihm die seltensten Eigenschaften an. Schuftel war ein intelligentes Tier und wurde durch die intensive Berührung mit einem Menschen noch wacher und aufmerksamer als ein normaler Hund. Er kannte Isos Schritt, wenn sie aus der Schule kam, und rannte ihr entgegen, sprang an ihr hoch und quiemte und hechelte vor Wonne. Er konnte sehr bald ›schön machen‹ und ›Pfote geben‹, sich tot stellen und durch einen Reifen springen, den Iso ihm hinhielt. Er stieß auf Befehl das Schaukelpferdchen an und lief auf den Hinterpfoten, wenn Iso es verlangte. Nur eines tat er nicht: Ratten fangen. Das machte Iso Sorge. Großvater hatte gesagt: »Ratten muß er fangen, sonst kommt er weg.« Wie brachte man das dem Hund bloß bei?

      Eines Tages schien die Gelegenheit da. In der Futterkammer befand sich ein leeres Faß, in dem Hafer oder ein anderes Futtermittel gewesen war. Darin rannte eine Ratte herum, die verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Iso glaubte, eine Chance zu sehen, und rief Schuftel. Sie zeigte ihm die Ratte, neigte die Tonne ein wenig und machte dem Hund ein Zeichen hineinzuspringen. Sie nahm fest an, er würde sich jetzt auf die Ratte stürzen und sie erlegen. Wenn sie ihn dann loben und belohnen würde, wäre der Anfang gemacht. Foxterrier wurden ja auch Rattler genannt.

      Weit gefehlt! Die Ratte fauchte und schoß auf den viel größeren Gegner los, sprang ihn an, biß ihn seitlich in die Lefze, so daß er aufjaulte, und schon rasten die beiden über den Hof, Schuftel voran, den Schwanzstummel eingezogen, die Ratte hinterdrein.

      Dieses Ereignis wurde für Schuftel zum Trauma. Er war noch jung, und es war seine erste Begegnung mit einer Ratte gewesen. Von nun an nahm er Reißaus, wo immer eine Ratte erschien – es gab ja so viele! Der Kutscher trat frühmorgens manchmal auf eine Ratte, wenn er seine Treppe herunterstieg. Die Scheusale waren unglaublich frech. Das Schwein, das in einem Nebengelaß des Pferdestalles lebte, wurde nachts von ihnen angeknabbert, während es schlief. Morgens flog der Marie, die zum Füttern kam, das Blut des Tieres entgegen, als es den Kopf schüttelte: sie hatten seine Ohren angenagt, ohne daß es erwacht wäre.

      Dieses Ereignis hatte Folgen.

      »Da muß der Köter ran!« sagte der Großvater, als man es ihm erzählte, und Iso erschrak furchtbar. Jetzt mußte es kommen!

      Und es kam.

      »Wenn der Kerl nicht unter den Biestern aufräumt, muß er weg. Wozu haben wir ihn denn!«

      Wütend stampfte er aus der Eßstube. Iso war in den Erker geflüchtet und erstickte dort ihr Weinen, damit die Großmutter es nicht hörte. Die Angst um ihren Liebling zerriß ihr das Herz. Was aber konnte sie unternehmen, um ihn zu behalten?

      Die Zeiten wurden immer dunkler. Iso vergaß es nie: Sie turnte außen am Treppengeländer im Flur, versuchte dort hinaufzuklettern, wo die hellgrauen Steinstufen ein ganz klein wenig hervorragten. Innen auf der Treppe stand Rudi, Sohn des Kurzwarenhändlers zwei Häuser weiter. Er ging in ihre Klasse. »Der Kaiser ist weg«, sagte Rudi.

      Iso sagte erst nichts. Daß dies etwas Schreckliches bedeutete, merkte sie an Rudis Ton. Scheu flüsterte sie: »Wer sagt denn das?«

      »Der Kurt hat’s mir erzählt.«

      Der Kurt war Rudis älterer Bruder. Er ging schon in die Oberklasse beim Kantor wie Alexander – Iso und Rudi waren noch in der Mittelklasse bei Frau Reimann. Herr Reimann war eingezogen. Daß die beiden großen Brüder klüger waren, sah Iso ein. Aber weg?

      »Ist er tot?« fragte sie scheu.

      »Nee, weg«, antwortete Rudi. Iso konnte sich das nicht vorstellen.

      Der Kaiser weg? Der, für den alle kämpften und so viele gefallen waren?

      »Gefangengenommen?« fragte sie noch.

      »Nee, ausgerissen.«

      Am nächsten Tag stand es in der Zeitung. Großmutter und Mutter hatten verweinte Augen. Iso wagte nicht zu fragen. Auch Alexander fragte sie nicht. Ob der Krieg nun verloren sei, ob die Franzosen einmarschieren würden, ob alle Häuser abgebrannt werden müßten? Ratlos blieb sie allein und verstand die Welt nicht mehr.

      Gern hätte sie Heidi gefragt. Aber Heidi lebte nicht mehr im Doktorhaus. Schorschel, ihr Mann, war in englischer Gefangenschaft, daher war sie zu Tante Mieke, seiner Mutter, nach Patschkau gezogen, um sie zu pflegen. Hanna, seine Schwester, war Lehrerin, aber sie wohnte nicht in Patschkau.

      Eines Tages, als Großmutter und Mutter Besuch hatten, stahl sich Iso aus dem Haus. Sie hatte insgeheim Radfahren gelernt und sich das Fahrrad einer Mitschülerin ausgeborgt, mit dem sie die neun Kilometer nach Patschkau bewältigen wollte – sie hatte solche Sehnsucht nach Heidi! Schuftel lief mit, es war ein trockener, sonniger Spätherbsttag, und Iso fühlte sich irgendwie erleichtert, einmal von zu Hause fort zu kommen.

      Auf halbem Wege begegnete sie einem älteren Mann, der sie nach dem Weg fragte. Iso stieg ab, sie wollte ihm Bescheid sagen und die Richtung erklären. Da trat er nahe zu ihr hin, näherte sein Gesicht dem ihren – er stank aus dem Mund –, faßte sie an, erst mit beiden Armen, dann mit einem, drückte sie fest an sich und fuhr mit der andern Hand unter ihr Kleid. Iso, völlig unwissend bezüglich dessen, was er vorhatte, versuchte sich zu befreien. Sie schrie aber nicht, was, ohne daß sie es ahnte, ihr Glück war. Sonst hätte er ihr wohl die Kehle zugedrückt.

      »Lassen

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