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      Die Prinzessin war jung und schön; sie trug große weiße Hüte wie die Kaiserin Auguste Viktoria und kümmerte sich um die Verwundeten. Iso und Alexander kannten sie. Die Prinzessin kam öfter zur Frau Rat, war reizend, immer weiß gekleidet, auch die Töchter. Wie kleine Märchenprinzessinnen, mit langen blonden Schlangenlocken, und – das erregte Isos größten Neid – sie hatten ein eigenes Pferd.

      Der Prinz besaß sowieso Pferde, und die Prinzessin ritt anmutig und elegant im Damensattel, bewundert vom ganzen Dorf und allen Verwundeten. Den Kindern hatte der gute Onkel eine halbhohe Stute gekauft, Ferrah, auf der sie im Park am »Ende der Welt« reiten durften, einem runden Platz mit schönster Aussicht auf die Berge. Die Prinzessin und ein Reitknecht begleiteten sie, und die kleinen Mädchen stritten sich darum, wer das Pferd führen dürfe. Iso schlich oft hinterher und beobachtete, hinter Sträuchern verborgen, wie sie im Kreis trabten und galoppierten, und starb beinahe vor Neid.

      Kam die Frau Prinzeß – sie ließ sich niemals »Königliche Hoheit« nennen, zumindest nicht von der Frau Rat, die sie sehr schätzte –, dann entflohen Alexander und Iso. Sie haßten es, wenn die Großmutter sie bat, sich um die kleinen Prinzessinnen zu kümmern, während deren Mutter bei der Großmutter saß. Mit sauren Gesichtern zogen sie mit dem kleinen Besuch in den Hof, Alexander machte sich sofort unsichtbar, und Iso zeigte den kleinen Mädchen ihre Karnickel. Es waren die einzigen Tiere, die ihr gehörten. Sie wünschte sich sehnlichst, aber vergeblich einen Hund. Mit Karnickeln konnte man nicht viel anfangen, aber den kleinen Prinzessinnen gefielen die Tierchen, sie streichelten und liebkosten sie. Manchmal erzählten sie von Ferrah.

      »Wir haben auch ein Pferd«, sagte Iso dann schnell. Es war zwar nur ein Doppelpony, wie man damals sagte, ein Beutepferd aus dem Krieg. Der Großvater fuhr jetzt einspännig und kutschierte selbst, manchmal durfte Iso mitfahren. Davon erzählte sie stolz, auch, daß sie kutschieren durfte.

      Eigentlich waren die kleinen Prinzessinnen recht nett. Sie bewunderten alles, was Iso ihnen zeigte, und erzählten von den Hunden ihres Onkels. Er hatte Möpse, die damals Mode waren.

      »Einer ist im Park begraben, den hat Onkel sehr liebgehabt«, erzählten sie, »er hat einen weißen Stein auf seinem Grab, darauf steht:

      ›Hier ruht mein treuer Mops,

      auch oft genannt die Moppe,

      er teilte meinen Lebensweg von –‹

      Die Zahlen weiß ich nicht. Darunter kommt noch:

      ›Erhöhte mir die Freude,

      erhellte mir das Leid

      durch stete Freundlichkeit.‹«

      Das gefiel Iso. Aber einen Mops wünschte sie sich nicht, lieber einen Foxel. Die Foxel waren munter und zum Spielen aufgelegt, zum Toben und sogar zum Rattenfangen. Hier gab es viele Ratten, denn im Nebenhaus war ein Lebensmittellager, von dort kamen sie. Mutter Regine und Friederike grausten sich vor ihnen, Iso stellte Fallen auf. Der Großvater versprach für jede erlegte Ratte zehn Pfennig.

      Eines Tages erschien Schorschel. Er trug eine Uniform, die ihm recht gut stand, und brachte seine Frau mit. Er hatte, wie es jetzt im Krieg üblich geworden war, ganz schnell geheiratet, ehe er an die Front mußte. Zwar war er erst Assessor, aber heute konnte man nicht warten, bis alles komplett war: der Beruf und die Wohnung, die Ausstattung und was sonst noch zu einer standesgemäßen Hochzeit gehörte. Er strahlte vor Stolz und Liebe.

      Heidi, seine Frau, war gleichaltrig mit ihm und bereits berufstätig. Sie war Krankengymnastin und Masseuse. Iso fand das großartig. Alles an Heidi war braun, die kurzgeschnittenen Haare – etwas ganz Neues –, die Haut, braun und glatt, als käme sie soeben von der See, und wie lachten ihre Augen! Die waren allerdings nicht braun, sondern grün, schilfgrün, und sie trug auch ein Kleid in dieser Farbe. Diese Augen ...

      »So was hat man im Mittelalter verbrannt«, sagte der Großvater und lächelte in diese Augen hinein, »man verbrannte nicht nur alte, krumme, scheußliche Hexen, sondern erst recht junge, schöne ...«

      Schorschel war allerdings nicht nur gekommen, um seine Heidi vorzustellen, sondern fragte an, ob man sie ›brauchen‹ könne. Es gebe so viele Verwundete hier und da sei vieles, was in ihr Fach schlage, und ob sie vielleicht auch im Doktorhaus wohnen dürfe ...

      »Natürlich darf sie«, sagte Großmutter sofort, »gern, gern, Schorschel! Dann haben wir eine Tochter mehr.«

      Es war ihr auch insofern lieb, daß Heidi zu ihnen zog, als Regine und Friederike sich zur Zeit nicht recht verstanden. An wem es lag, der älteren oder der jüngeren, war schwer zu entscheiden. Vielleicht ging es zu dritt besser als zu zweit.

      Nun war die Jugend im Haus um eine Person vermehrt, und um was für eine muntere! Heidi freundete sich sofort mit Friederike an, ließ die kleine Christiane nach dem Bad turnen, betreute Großmutters Ischias und lief mit Regine spazieren, wenn sie es zeitlich einrichten konnte.

      »Vielleicht denken die Leute, das ist mein Kind«, sagte sie lustig, wenn sie den Kinderwagen im Geschwindschritt durch’s Dorf schob. Nun, die Leute waren wohl besser informiert über die Familie des Doktors, aber Freunde gewann Heidi sofort und überall. Sie wußte schon bald, wer ihr da zunickte, sie hörte zu, wenn man ihr von Krankheiten und Geburten erzählte, sie erteilte Ratschläge und griff zu, wo zuzugreifen war. Auch der junge Mediziner, Heinrich, wie er genannt wurde, sah sie bewundernd an. Er hieß eigentlich gar nicht so. Eines Tages war von Christianes Kinderwagen ein Rad abgefallen – kein Wunder bei Heidis Tempo –, und die Kinderkutsche hing schief.

      »Heinrich, der Wagen bricht!« rief Heidi, und der junge Mann stürzte herbei, um zu helfen. Seitdem wurde er Heinrich genannt, und er ließ sich’s gern gefallen. Trug doch einer der Prinzen den Namen Friedrich Heinrich. Der andere hieß Friedrich Wilhelm. Beide Prinzen, hochgewachsen, sehr schmal, überzüchtet, wurden im Dorf sehr verehrt. Sie besaßen das erste Auto in Camenz, einen offenen schwarzen Wagen.

      »Halli, hallo!« machte die Hupe. Die Kinder sangen nach der Tonfolge:

      Halli, hallo,

      mich beißt ein Floh,

      ich weiß nicht wo,

      bald hie bald do.

      Die letzte Zeile war aus Rücksicht auf Eltern und Großeltern geändert und entschärft worden, denn eigentlich lautete sie anders. Aber Wörter wie dieses, das hierher gehört hätte, durften die Geistkinder nicht aussprechen.

      Eines abends traten die Eltern – Vater Martin war auf Urlaub da – nachts an die Betten der Kinder, ehe sie selbst schlafen gingen, und unterhielten sich halblaut. Regine zog Alexander die Zudecke zurecht und entwirrte dann Iso, die wie immer verwickelt und merkwürdig verdreht in ihrem Bettzeug lag.

      »Nie liegt sie ausgestreckt wie ein vernünftiger Mensch, immer zusammengedreht und krumm. Und ich sag’ ihr jeden Abend, sie solle sich gerade auf den Rücken legen. Meinst du, daß sie krumm wird?«

      »Verwachsen? Da sei Gott vor!« sagte Martin erschrocken. »Gibt es in eurer Familie Bucklige?«

      »Ich wüßte keinen. Aber sie hat auch solche Hände, so schöne Hände, aber –«

      »Weil Bucklige oft schöne Hände haben? Aber damit ist doch noch nicht gesagt –«

      Iso schlief nicht. Sie tat nur so. Ein heißer Schreck fuhr ihr durchs Herz. Bucklig werden! Vielleicht fand Alexander sie so häßlich, weil man es schon merkte?

      Im Dominium, das zum Schloß gehörte, gab es noch eine Bucklige, die Tochter des Verwalters. Sie war ein paar Jahre älter als Iso, nicht so klein wie die Hase-Rosa, aber auch sie war verwachsen. Sabine hieß sie, war freundlich und lachlustig und wurde allgemein Bine genannt. Obwohl Bine bei jedermann beliebt war, quälte sich Iso bei dem Gedanken, daß sie so werden könne wie Bine. Sie vergaß nie, was die Eltern gesagt hatten, versuchte jeden Abend, gerade auf dem Rücken liegend einzuschlafen, und wachte verkrümmt und zusammengerollt wieder auf. Niemand hatte eine Vorstellung davon, wie sie sich ängstigte und litt.

      Es war überhaupt eine dunkle Zeit.

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