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hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Hältst du sie für berechnend? Nein, das wirklich nicht. Alles andere als das.«

      »Es liegt auf der Hand, da einen Zusammenhang zu sehen.«

      »Völlig falsch. Dieses Mißtrauen steht dir nicht.«

      »Aber ich gehe doch sicher recht in der Annahme, daß ihr schon fixe Reisepläne gemacht habt?«

      »Auch das stimmt nicht. Wir haben noch nicht einmal darüber miteinander gesprochen. Das Ziel überlasse ich dir. Richtung Süden habe ich mir gedacht. Doch wenn du nach Skandinavien willst, soll es mir auch recht sein. Ich möchte nur mal heraus aus dem Trott. Die letzten Jahre war es ja unmöglich.«

      »Eine Reise«, dachte er laut, »weit weg von allem hier, das müßte wunderbar sein!«

      »Bist du unglücklich?«

      »Wie kommst du darauf?«

      »Es hat so geklungen.«

      »Nein, nein, nur … das tägliche Einerlei hängt mir genauso zum Hals heraus wie dir. Also … wo wollen wir hin?«

      »Laß uns morgen in Ruhe darüber reden, ja?« Sie gab ihm einen Kuß und schlüpfte aus seinem Bett.

      Am nächsten Tag kamen sie überein, nach Sylt zu fahren. Da Karlas Schulferien im Juli lagen, meinte er, daß es in dieser Zeit im Süden zu heiß sein würde. Auf Sylt gab es komfortable Hotels, und auch wenn es regnen sollte, würde die Seeluft ihnen allen guttun. Karla war Feuer und Flamme, und die Zwillinge waren es zufrieden, unter die Obhut der Großeltern zu kommen. Karl Malthaus suchte ein Reisebüro auf, ließ sich Zimmer reservieren und bestellte die Flugkarten nach Hamburg. Er hängte sich auch ans Telefon, um einen Vertreter für die Zeit seiner Abwesenheit zu bekommen. Damit es sich auch lohnte, wollten sie volle vier Wochen fortbleiben. Am 28. Juni sollte es losgehen.

      Zwar gestand er sich selber, daß er lieber alleine verreist wäre. Aber er sprach es nicht aus, denn er litt unter dem uneingestandenen Gefühl an seiner Frau und seiner Tochter etwas gutmachen zu müssen. Ihre Begeisterung bei der Aussicht auf diese große Reise steckte ihn nicht an, freute ihn aber doch. Der Ortswechsel, so hoffte er, würde auch für ihn eine Zäsur bedeuten, obwohl sein Leben danach so trivial weitergehen würde wie jetzt.

      Der Anruf kam in der Nacht.

      Dr. Karl Malthaus, der es gewohnt war, aus dem Schlaf gerissen zu werden, war sofort hellwach. Nur dauerte es eine Zeit, bis er begriff, wer da auf ihn einsprach. Es war Anja Millers Schwester.

      »Ein Anfall«, sagte sie, »ein schwerer Anfall! Das Herz … ich fürchte das Schlimmste!«

      »Dann sollten Sie den Notarzt anrufen!«

      »Das will sie nicht, sie will…«

      »Dann werde ich kommen. Sagen Sie ihr, ich fahre sofort los!«

      Noch vor dem Notarzt klingelte er an der Wohnungstür. Die Schwester öffnete ihm. Sie hatte einen Morgenmantel über ein altmodisches bodenlanges Flanellhemd geworfen und sah, totenblaß, mit vor Schreck geweiteten Augen, selber so aus, als hätte sie ärztliche Behandlung nötig.

      In der kleinen Diele stolperte er über einen Koffer.

      »Auch das noch!« Die Schwester rang die Hände. »Entschuldigen Sie, Herr Doktor! Es ist so, ich wollte morgen…«

      »Ich dachte, Sie wären längst über alle Berge«, sagte er, während er an ihr vorbei in das Schlafzimmer hastete.

      »Nein, ich … es hat sich verzögert! O Gott, Herr Doktor … wenn sie nun stirbt!«

      Anja lag verkrümmt in ihrem Bett und stöhnte. Sie schien große Schmerzen zu haben. Ihre Haut wirkte bläulich, das Gesicht verzerrt. Ohne zu fragen, öffnete er seine Bereitschaftstasche und zog eine Spritze auf.

      Dabei redete er sanft auf sie ein. »Wird schon wieder gut. Ist gleich vorbei. Sie werden sehen. Stöhnen Sie nur, wenn es Ihnen Erleichterung verschafft.«

      Er injizierte intravenös.

      Anja schlug die Augen auf. »Sie sind es! Das ist gut … so gut!«

      »Packen Sie ihr rasch ein paar Sachen zusammen, nur das Wichtigste«, sagte er zu der Schwester, die ihm nachgekommen war.

      Trotz ihres Zustandes begriff Anja. »Aber ich will nicht…«

      »Sie haben jetzt gar nichts mehr zu wollen. Hier bestimme ich. Seien Sie froh, daß Sie ins Krankenhaus kommen. Dort sind Sie unter ständiger ärztlicher Betreuung und können endlich einmal gründlich untersucht werden.«

      »Bitte, bitte! Solche Angst!«

      »Ich werde Sie begleiten. Ihre Schwester ist dazu ohnehin nicht in der Lage!« Er gab der Frau zwei Tabletten. »Nehmen Sie die und schlafen Sie sich erst mal aus.«

      »Aber kann ich dann morgen abreisen?«

      »Diese Frage müssen Sie sich selber beantworten.«

      »Nein, ich bleibe lieber, bis ich weiß, was mit Anja ist.«

      Auf der Fahrt im Rettungswagen zur Klinik umklammerte Anja seine Hand. Aber die Spritze tat ihre Wirkung, und endlich schlief sie ein. Sie merkte nicht mehr, daß sie in ein Krankenzimmer getragen wurde.

      Dr. Malthaus gab ihre Daten an, ihre Versicherung und berichtete dem diensthabenden Arzt ihre Krankengeschichte. Er bat, vom Ergebnis der Untersuchung benachrichtigt zu werden.

      Als er die Klinik verließ, war er erleichtert, die Verantwortung los zu sein.

      Acht Tage später hielt er das Untersuchungsergebnis in Händen. Es war mit der Post gekommen, und er las es sofort, obwohl sein Wartezimmer voll war. Man hatte ihr Herz in Ruhelage und bei ständig gesteigerter Anstrengung getestet, aber das EKG zeigte keinen Befund.

      »Die Patientin ist körperlich völlig gesund«, hatte der Herzspezialist darunter gekritzelt, »die krampfartigen Anfälle, subjektiv mit starken Schmerzen und einem bedrohlichen Angstgefühl verbunden, rühren von einer Neurose her, deren Ursache der Patientin nicht bekannt ist und wahrscheinlich von Ereignissen in der frühesten Kindheit verursacht werden. Da die Patientin eine psychiatrische Behandlung ablehnte, ist sie heute entlassen worden.«

      Er sah auf das Datum des Briefes – seit gestern war sie also schon wieder zu Hause. Das Ergebnis der Untersuchung überraschte ihn nicht. Es entsprach seiner eigenen Diagnose. Damit war der Fall abgeschlossen.

      Aber nachdem er seine Hausbesuche am Nachmittag hinter sich gebracht hatte, fand er sich vor ihrer Wohnungstür.

      Anja Millers Schwester öffnete ihm wie früher und führte ihn in das helle Zimmer mit dem japanischen Garten.

      Anjas Gesicht leuchtete auf, als sie ihn sah, und sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind!«

      »Ich mußte doch noch einmal nach Ihnen sehen.«

      »Bitte, nehmen Sie sich einen Whisky!«

      »Deshalb bin ich nicht hier.«

      »Bitte! Sonst muß ich selber aufstehen, und ich fühle mich noch ein bißchen schwach. Sie kennen sich doch aus, Herr Doktor!«

      Er goß sich Whisky und Wasser ein, tat einen Eiswürfel dazu und setzte sich auf den gewohnten Platz. Wieder begann die Stille des Raumes und der Anblick des japanischen Gartens ihn gefangenzunehmen.

      »Sie glauben doch nicht, was die anderen Ärzte behaupten?« fragte sie in sein Schweigen hinein.

      Er zuckte ein wenig zusammen und stellte das Glas aus der Hand.

      »Ich bin keine eingebildete Kranke!« erklärte sie mit Nachdruck, aber ihre Stimme blieb sanft.

      »Natürlich nicht.«

      »Die wollten mich zu einem Psychiater schicken.«

      »Ich verstehe sehr gut, daß Sie das ablehnen. Aber solange Ihre Schwester noch hier ist…«

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