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Stadt fuhr, spannten sich seine Nerven, und wenn dann sein ärmliches, ein wenig verwahrlost wirkendes Häuschen vor ihm auftauchte, überkam es ihn wie eine Woge von Gereiztheit. Er wußte, daß er seiner Frau und den Kindern gegenüber ungerecht war. Sie konnten nichts dafür, daß sie so waren, wie sie waren, dachte er oft. Deshalb bemühte er sich, freundlich zu sein. Aber seine Anstrengung war so spürbar, daß seine Gutmütigkeit krampfhaft wirkte. Seine Frau und seine Tochter merkten es. Sie hüteten sich zwar, ihm Fragen zu stellen, aber schon wie sie ihn mit großen Augen skeptisch musterten, konnte ihn rasend machen.

      Jockel und Hinkel waren nicht so feinfühlig. Aber daß sie keinerlei Rücksicht auf seine verwirrten Gefühle nahmen, machte die Sache auch nicht besser.

      Ein schlechtes Gewissen seiner Familie gegenüber hatte er nicht. Anja war für ihn nichts weiter als eine Patientin, die seiner Sorge bedurfte, sagte er sich immer wieder. Es war durchaus legitim, daß er nach der Untersuchung noch einige Minuten bei ihr blieb und einen Schluck zu sich nahm. Er war nicht in sie verliebt, dessen war er sich sicher. Nie verspürte er den Wunsch, sie in die Arme zu nehmen, sie zu küssen oder sich gar körperlich mit ihr zu vereinen. Anja Miller war keine Frau, die Begehren erweckte. Es war unmöglich, sie sich erhitzt, leidenschaftlich, in Ekstase vorzustellen. Er war nahe daran und glaubte es auch, gewissen Andeutungen entnehmen zu können, daß sie noch unberührt war. Ihr Mann war sehr viel älter gewesen, und sie hatten getrennte Schlafzimmer gehabt. Wenn er über diese Vermutungen nachdachte, schämte er sich schon vor sich selber und vor ihr, die so rein war. Ja, es war ihre Reinheit, die ihn anzog, glaubte er.

      Das erklärte ihm auch den Sog, der von ihr ausging, das und natürlich ihre Einsamkeit. Er war immerhin noch realistisch genug, sich das zuzugeben. Anja schien keine Bekannten, keine Freunde oder Freundinnen zu haben.

      Als er sie einmal darauf ansprach, erwiderte sie: »Ich habe nur für meinen Mann gelebt.« Ein andermal erklärte sie: »Es macht mir nichts aus, allein zu sein.«

      Aber es war offensichtlich, daß sie die stille halbe Stunde mit ihm genoß.

      Er war nicht in sie verliebt, aber er hätte sich vorstellen können, mit ihr zu leben, nach all dem Lärm des Tages, dem Stöhnen der Kranken, dem Weinen und Schreien seiner kleinen Patienten, zu ihr in diese stille Wohnung heimzukehren und dort zu bleiben. Niemals mehr würde er Renates vergnügten Freundinnen begegnen, die manchmal scharenweise und dazu noch mit ihren Kindern einfielen, sich nie mehr auf lärmenden Partys mit biertrinkenden Männern unterhalten müssen. Bei ihr hätte er die Ruhe gehabt, sich beruflich fortzubilden, mit ihr wäre er gar nicht erst in die Niederungen einer allgemeinen Praxis geraten, glaubte er.

      Mit diesen Wünschen, die er doch unterdrücken mußte, verriet er seine Frau und seine Kinder. Dessen war er sich bewußt. Aber diese Einsicht verschärfte nur noch die Bitterkeit, die er empfand.

      Indessen gesundete Anja sichtlich. Ihre Symptome, die doch wohl psychosomatischer Art gewesen waren, wurden schwächer, bis sie endlich ganz verschwunden waren. Aber anscheinend fehlte es ihr noch an Kraft, ein normales Leben aufzunehmen. Wenn er ihr riet, einmal an die frische Luft zu gehen, einen Spaziergang zu machen oder einen Einkaufsbummel, hörte sie ihm lächelnd zu. Doch er war sicher, daß sie seinem Rat nicht folgen würde.

      Eines Tages eröffnete sie ihm: »Meine Schwester will mich verlassen.«

      Er erschrak so sehr, daß er nichts darauf zu sagen wußte. Wie ein Blitz hatte ihn die Erkenntnis getroffen, daß dann auch seine Besuche nicht mehr zu rechtfertigen waren.

      »Ihr Mann belästigt sie mit Briefen und Telefonaten. Sie fürchtet, daß sie ihn nicht länger allein lassen kann«, fuhr Anja nach einer Pause fort.

      Er rang sich ein ›Verständlich!‹ ab.

      »Wir haben uns nie sehr nahegestanden.«

      »Um so anerkennenswerter, daß sie sich so lange um Sie gekümmert hat«, sagte er, dem endlich die Kehle wieder frei geworden war.

      »Ja, das ist es wohl.«

      Wieder entstand, wie so oft in ihren Gesprächen, eine lange Pause, aber diesmal war sie nicht friedvoll, sondern voll unterdrückter Spannung.

      »Dann werden wir uns wohl auch nicht mehr wiedersehen«, sagte Anja, »es wäre nicht schicklich.«

      Der Ausdruck erschien ihm sehr altmodisch, weit hergeholt, aber in der Sache mußte er ihr recht geben. Nicht nur ihres, sondern auch seines Rufes wegen war es nicht angebracht, eine allein lebende junge Witwe außer in einem akuten Notfall aufzusuchen.

      »Sie sind ja auch jetzt wieder ganz gesund«, sagte er.

      »So gesund, wie ich sein kann«, bestätigte sie mit einem zittrigen Lächeln.

      »Ich werde Ihren japanischen Garten sehr vermissen.«

      Ihre Augen leuchteten auf. »Ich könnte Ihnen Bonsais geben…«

      »Lieber nicht«, fiel er ihr ins Wort, »sie passen wohl kaum zu mir.«

      »Wo Sie solche Freude an ihnen hatten?«

      »Hier bei Ihnen«, sagte er und stand auf.

      Auch sie erhob sich. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Doktor! Ich hätte nie geträumt, an einem Ort wie diesem einen so fantastischen Arzt zu finden!«

      »Sie übertreiben!«

      »Nein, gar nicht. Sie müssen mir glauben, ich kenne mich mit Ärzten aus, schon durch die Krankheit meines Mannes. Ich frage mich schon lange, was Sie hierher verschlagen hat!«

      Sie war so lebhaft wie nie zuvor, und er nahm es als Zeichen ihrer Gesundung, wenn es ihn auch schmerzte. »Das Schicksal«, erwiderte er lächelnd.

      Sie reichte ihm die Hand, eine zarte, kleine, kühle Hand, und aus einem Impuls heraus beugte er sich darüber und küßte ihre Fingerspitzen.

      Er hatte sie verloren.

      Natürlich hatte er gewußt, daß es nicht immer so hätte weitergehen können. Der Blitz hatte ihn nicht aus heiterem Himmel getroffen, sondern aus einer aufdräuenden Gewitterwand. Er war vorbereitet gewesen, hatte geglaubt, vorbereitet zu sein und nicht geahnt, daß es ihn so schmerzen könnte. Die Trennung von Anja hatte ein Loch in seinem Leben aufgerissen, eine Leere hinterlassen, von der er nicht wußte, wie und womit er sie ausfüllen konnte.

      Aber er mußte es durchstehen. Es war lächerlich, er mußte darüber wegkommen.

      An diesem Abend zu Hause fiel ihm zum erstenmal auf, daß Karla keine Kraftausdrücke mehr verwendete.

      Als ihr versehentlich die Gabel zu Boden fiel, sagte sie nicht ›Scheiße‹, wie er erwartet hatte, sondern ›schade‹.

      Er wurde aufmerksam. »Du fluchst gar nicht mehr?« fragte er erstaunt.

      Sie strahlte ihn an. »Hast du’s endlich geschnallt? Ich hab’s mir abgewöhnt.«

      »Tatsächlich? Eine beachtenswerte Leistung.«

      »Nicht, weil ich einsehe, daß was dabei ist, Vati, sondern nur dir zuliebe.«

      Er war gerührt, merkte, daß seine Tochter und seine Frau sich mit einem Blick verständigten, spürte, daß er von Liebe umgeben war – nur konnte diese Liebe ihn nicht mehr erreichen. Er sehnte sich nach der Stille eines hellen Raumes und nach einem winzigen märchenhaften Garten.

      In dieser Nacht schlief er das erstemal nach langer Zeit wieder mit seiner Frau. Er tat es nicht aus Zärtlichkeit, nicht einmal aus Leidenschaft, sondern aus Verzweiflung. Danach aber fühlte er sich besser, fast befreit.

      Sie lag, den Kopf an seine Brust geschmiegt. »Wann willst du dieses Jahr Urlaub machen?«

      »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

      »Ich habe mit meinen Eltern telefoniert. Sie würden in der Zeit zu uns kommen, Jockel und Hinkel betreuen.«

      »Haben sie sich auch klargemacht, was ihnen da bevorsteht?«

      »Ach, die

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