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Die Haimonskinder. Lise Gast
Читать онлайн.Название Die Haimonskinder
Год выпуска 0
isbn 9788711508978
Автор произведения Lise Gast
Издательство Bookwire
Ron sang. Heute nachmittag würde sie mit Wolf in der Sonne sitzen und Mohn aufschneiden — wie würde Christine staunen, wenn sie damit ankamen! Und wie gut würde es ihr tun, endlich einmal wieder etwas Nahrhaftes zu der üblichen Ration hinzuzubekommen.
Christine war zart, man mußte für sie sorgen. Sie war, als sie flüchteten, dreizehn Jahre alt gewesen und hatte neben der Volksschule, die sie ja noch besuchen mußte, den Haushalt der vier Geschwister geführt, während sie, Ron, sich kurz entschlossen zum Enttrümmern gemeldet hatte. Sie hatten beide zu Hause die höhere Schule der Kreisstadt besucht, aber daran war jetzt nach dem Tode der Eltern natürlich nicht mehr zu denken. Der Bürgermeister des Städtchens war zu ihrem Vormund eingesetzt, da sie ja alle noch nicht mündig waren, aber das nützte ihnen praktisch eigentlich fast nichts. Der ältere Herr war überbürdet mit Pflichten und Sorgen, er entschuldigte sich manchmal bei Ron, daß er sich nicht mehr um sie zu kümmern vermochte — „aber Sie sind ja so tüchtig ...“ Sie bekamen etwas Unterstützung von der Wohlfahrt und Ron durch ihre Arbeit auch Karte eins, und etwas Geld hatten sie anfangs auch noch gehabt. Trotzdem hatten die ersten Jahre Christine sehr zugesetzt, mehr als ihr, Ron, die kräftig und gesund war, platzgesund, hatte Vater immer gesagt. Aber das Enttrümmern war doch sehr schwer gewesen.
Wie schwer, das ahnte auch Christine nicht; Ron hatte es ihr nie erzählt. Es war vor allem die Gesellschaft, in der man sich dort befand, die sie bedrückte: rüpelhafte Männer, die ständig scheußliche Witze erzählten. Ron hatte versucht, sich Ohrenlider wachsen zu lassen und sie zu schließen, nichts zu hören, aber das war nicht leicht. Deshalb vor allem hatte sie dies Jahr mit der Schipperei aufgehört und sich Arbeit bei Bauern gesucht, die auch nicht leicht war, aber doch hie und da etwas einbrachte zum Essen. Gemüse, Zwiebeln und ähnliches hatte sie oft mit nach Hause bringen können, und das glich den weiten Anmarsch wieder aus, vor allem, als ihr Rad noch funktionierte. Das Rad entbehrte sie bitter, aber vielleicht war es möglich, es wieder in Ordnung zu bringen, wenn sie jetzt etwas Körner und Mohn besaß und eventuell einen neuen Schlauch eintauschen konnte. Dann fuhr sie wieder hinüber, statt zu laufen, und alles wurde besser.
Selbstverständlich durfte niemand ahnen, daß sie mit ihren mühsam erworbenen Lebensmitteln auch noch tauschen wollte — wenn das herauskam, hatte sie nichts mehr zu erwarten. Der Bauer tat immer, als wäre es eine Gnade, wenn sie überhaupt etwas bekam, dabei war er im Grunde verpflichtet, Deputat zu geben; sie hatte ja jetzt nur Karte vier, die Karte mit den kleinsten Rationen. Und die Frau, die ebenfalls dort arbeitete, war fürchterlich mißgünstig; sie hatte drei kleine Kinder und fand immer, daß „ledige Arbeiter“ wie Ron eigentlich nichts bekommen dürften. Daß auch sie, Ron, für vier Mann geradezustehn hatte, wollte sie nicht wahrhaben. Gewiß hatte sie es auch schwer, aber es war ja wohl in Wahrheit so, daß jeder Mensch überall und lediglich seine Sorgen sah ...
Ron hatte das des öfteren mit Seufzen festgestellt und mühte sich ihrerseits, auch die andern zu verstehen. Sie hätte so gern jedem geholfen, der in Not war — die eigene Not öffnete einem eigentlich von selbst das Herz. — Aber es war fast nicht möglich. Jeder und jede war in dieser harten Zeit so hilfsbedürftig, daß man am liebsten die Augen zugemacht hätte vor dem Elend ringsumher. Aber gerade das durfte man doch nicht.
Auch Matthias gegenüber empfand Ron immer diese Bedrückung. Matthias hatte es ja noch schwerer als sie, er besaß keinen Menschen mehr auf der Welt, der ihm nahestand. Sie hatte doch wenigstens ihre Geschwister. Er aber war aus dem Kriege wiedergekommen und stand allein, ganz allein. Da war es kein Wunder, daß er sich an sie angeschlossen hatte, als sie freundlich und herzlich zu ihm war, eben aus dem Gefühl heraus, daß er noch viel, viel ärmer sei als sie und Christine. Trotzdem bedrückte es sie, wenn sie merkte, wie er an ihr hing.
Aber heute konnte dies alles ihre gute Stimmung nicht beeinflussen. Sollte man nicht einmal von Herzen fröhlich sein, an einem solchen Sonntagmorgen! Es würde ein herrlicher Tag werden. Und jetzt war auch bald Frühstück, da bekam sie zweifellos von Frau Struve eine, wenn nicht zwei oder drei tüchtige Schnitten. Eine aß sie bestimmt sofort und mit Genuß selbst, wo sie doch die andern für Wolf und Matthias einstecken konnte. Und dann waren es noch zwei oder drei Stunden bis Mittag, und dann war sie frei, einen ganzen, langen, unsagbar herrlichen Sonntagnachmittag.
Herr Hupe sah schon nach der Uhr, es mußte bald Frühstück sein. Gerade kamen nicht mehr Bündel, sondern loser Weizen aus der Luke, es war also wieder eine Schicht zu Ende. Ron raffte das Getreide und warf es in die Maschine, ungeachtet der Disteln, die sich ihr dabei in die Haut piekten.
„Nehmen Sie doch die Forke!“ schrie ihr Herr Struve durch den Lärm der Maschine zu, „hier —“
Ron hantierte ungern mit der Gabel hier oben auf dem Tisch, sie fürchtete immer, damit jemand zu verletzen, denn es war eng. Trotzdem nahm sie die Gabel und begann, das Getreide damit einzuwerfen, — sie hatte überhaupt die Gewohnheit, immer den Anweisungen der andern zu folgen; sie verstanden eben mehr von der ihr ungewohnten Arbeit, und man vermied Auseinandersetzungen. Im nächsten Augenblick fuhr sie zu Tode erschrocken aus ihren Gedanken auf: ein ohrenzerreißendes Tettern und Scheppern hallte über den Hof, ließ sämtliche Fensterscheiben des Hauses erzittern und alle Gesichter erblassen, am meisten aber ihr Gesicht.
Du lieber Gott im Himmel, was hatte sie gemacht! Unfreiwillig, aber doch zweifellos sie. Sie hatte eine Gabel in die Maschine geworfen. Vorhin schon, als das erste lose Stroh kam, hatte ihr die neben ihr stehende Frau ihre Gabel gegeben, um einzuwerfen, Ron aber hatte sie wieder weggelegt, weil sie lieber mit den Händen raffte. Nun war diese Gabel unter das lose Stroh geraten, sie hatte sie mit der zweiten Gabel, die ihr Herr Struve zugereicht hatte, mitsamt dem Getreide erwischt und in die Maschine geworfen. O Gott, o Gott, — schon ein Aufschneidemesser hineinfallen zu lassen war Todsünde — daher fürchtete sich ja jeder so sehr vorm Aufschneiden. Aber eine Gabel! Nun zerriß diese womöglich die ganze Maschine; dem Krach nach zu urteilen ohne Zweifel. Ron hatte einen Augenblick lang das Gefühl, als bliebe ihr nun weiter nichts übrig, als sich köpflings nachzustürzen — nie, nie im Leben konnte sie den Schaden wieder gutmachen, den sie jetzt angerichtet hatte ...
„Halt! Halt!“ schrie Herr Struve, so laut er konnte, aber die Maschine lief weiter, das brüllende Scheppern hallte weiter. Noch sah man den Stiel der Gabel im offenen Rachen stecken, er schlug hin und her, sank langsam tiefer ...
Ron war noch nie ohnmächtig geworden in ihrem jungen Leben, jetzt aber hatte sie das Gefühl, als müsse das großartig und die einzige Rettung sein. Wenn sie jetzt umfiel — sie hatte ja früh nichts gegessen, ob ihr das nicht dazu verhelfen konnte? Vielleicht hatten die andern dann Mitleid mit ihr, und sie kam glimpflich davon? Aber sie sah und hörte alles mit der größten Deutlichkeit, den entsetzlichen Krach und die blassen und aufgeregten Gesichter um sie her — nein, sie wurde nicht ohnmächtig. Und warum hielt denn niemand die Maschine an?
In diesem Augenblick stand jemand neben ihr, er mußte wie ein Blitz die Leiter emporgefegt sein. Er griff in die Maschine, was verboten war, erwischte den Stiel der Gabel, zerrte und riß. —
„Weiter im Text“, hörte sie gleich darauf eine lachende Jungmännerstimme, sah ein gerötetes Gesicht und blitzende Zähne und — dem Himmel und allen Nothelfern auf Erden sei tausend und millionenmal Dank — einen beschabten und wie beknabberten Gabelstiel, der nicht mehr in der Maschine steckte, sondern aus ihr herausgerissen war, mit solchem Schwung, daß er um ein Haar den Herausreißenden über den Maschinentisch hinunter geschleudert hätte. Aber das tat