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du, ich hatte mich gar nicht so geschlagen, oder wenigstens, ich heulte nicht deshalb. Ich wollte bloß, daß Ron einen tüchtigen Schreck bekäme, so frech wie sie immer zu mir war.“

      Christine lachte.

      „Ach ja. Wegen so was heulte man damals —“ Sie sagte das mit einer gewollt ruhigen, ein bißchen spöttischen Stimme, aber es war, als brächen diese Worte einen Damm in ihr. Etwas Langangestautes, etwas Überwältigendes brach sich Bahn; sie versuchte es noch abzustoppen, aber es war schon zu spät. Mitten im letzten Wort zerbrach ihre Stimme, und der Kummer, die Sehnsucht und der fürchterliche Schmerz um das Verlorene kam in einem so wilden und gewaltigen Schluchzen zutage, daß Ulla, zu Tode erschrocken, hochfuhr. Sie starrte zu Christine hinüber und stammelte entsetzt und hilflos immer wieder:

      „Aber Tine — aber Tine —“

      Christine war selbst sehr erschrocken, vor allem Ullas wegen. Sie versuchte immer wieder, sich zu fassen; aber es war, als müsse sie jetzt mit einem Male all die Tränen nachholen, die sie in den letzten drei Jahren unterdrückt hatte. Es weinte einfach aus ihr heraus, es war wie eine Krankheit, die ausbricht, wie ein Blutsturz; Ulla war längst aus ihrem Bett getappt und streichelte und tröstete, aber Christine konnte nicht einmal antworten. Das erste Wort, das sie schließlich hervorwürgte, war:

      „Entschuldige —“

      „Ach, laß man“, murmelte Ulla, aber als Christine sie dann bettelnd ansah:

      „Geh, Ullalein, lauf, und denk nicht mehr dran — ich werd’ schon wieder vernünftig“, da war sie doch sehr erleichtert. Sie war ja noch klein, ein Kind, ein dummes, das den Schmerz eines andern Menschen zwar sieht und bedauert, sich aber auch und in erster Linie davor graut.

      Sie ging. Schnell in die Sachen geschlüpft und hinaus! Einen Augenblick stand sie in der nebligen Frühe unschlüssig und ein bißchen verloren, dann aber fiel ihr ein, daß ja heute Sonnabend sei. Sonnabend, welches Glück! Sogleich setzten sich ihre Beine in Bewegung und trabten die abschüssige Straße hinunter. Sonnabend, da hatte Frau Helmers im Hause zu tun, da kam sie nicht in die Gärtnerei. Großartig. Es würde einen wundervollen Vormittag geben.

      Ulla bog in die Hauptstraße des Städtchens ein und folgte ihr, die noch still und verschlafen dalag und dadurch womöglich noch häßlicher wirkte, mit zertrümmerten Eckhäusern, glotzenden Fensterhöhlen und dazwischen schon wieder angesiedelten Geschäften. Ulla wußte nicht, sie konnte nicht wissen, daß diese Stadt auch in heilem Zustand nie schön gewesen war — jedenfalls nicht nach dem Brande, der sie vor einem halben Jahrhundert nahezu niedergelegt hatte und nach dem sie so häßlich wieder erstand — mit roten Brandmauern und billigen, raschgebauten Mietskasernen. Sie fühlte nur die Feindseligkeit, die sie umgab, zumal ihr heute Christinens ausbrechender Schmerz das Herz dafür geöffnet hatte. Sie war froh, als sie die Stadt hinter sich hatte. Nun traten die Häuser und Ruinen rechts und links von der Straße zurück, es gab Vorgärten, und schließlich sah sie das große weiße Schild, das auch ein bißchen seitwärts, gleichsam bescheiden, am Wegrand stand: Gärtnerei Christian Gottlieb Jesumann.

      Es war zuerst der Name gewesen, der sie aufmerksam gemacht hatte, „Christian Gottlieb Jesumann“, das klang so anheimelnd fromm, eigentlich wie ein Vers aus dem Gesangbuch. Ulla hatte vor zwei Jahren, im ersten Jahr, da sie zur Schule ging, einen langen und häßlichen Gelenkrheumatismus gehabt, und damals hatte sie recht eigentlich das Lesen gelernt, einfach so aus Langeweile und dem Drang, bei dem Stilliegen irgend etwas vorzuhaben. Am Gesangbuch, dem einzigen Buch, das in ihrer Stube aufzutreiben war, lernte sie lesen. Ihre Wirtin hatte es, weil sie es wahrscheinlich doch nie aufschlug, auf der Kommode liegen lassen, es war ganz verstaubt gewesen. Ulla hatte es sich geholt und darin buchstabiert, gelesen und schließlich daraus gelernt. Damals war auch Christine fast immerfort weggewesen, um mit Ron zusammen das Allernotwendigste aufzutreiben, was sie zum Leben brauchten, und so war Ulla sehr viel allein gewesen. Und sie fand die Lieder schön, die sie las.

      Gottlob, das Tor war schon offen. Sie schlüpfte hinein und lief auf das erste der Warmhäuser zu. Auch hier steckte der Schlüssel. Und gerade als sie hineinwollte, öffnete sich die Tür und Herr Jesumann kam heraus.

      Sein rundes rotes Gesicht mit den fast weißen Augenbrauen und den hellblauen, ein bißchen blassen Augen strahlte auf, als er Ulla sah. Er nahm sie an der Hand und drehte sofort um, zog sie mit sich, während er verschmitzt lächelte.

      „Gut gemacht, Ullalein, gut gemacht. Heute kommt sie nicht, da kannst du mir viel helfen —“

      „Sie“ war Frau Helmers, seine Schwägerin, die seit dem Tode seiner Frau und seines kleinen Mädels bei ihm wohnte. Sie war sehr tüchtig, wie er immer wieder betonte, wenn er von ihr sprach. Er hatte sich angewöhnt, dies und das mit Ulla zu besprechen, wenn sie zusammen pikierten oder umsetzten oder sonst irgendwelche sich stets wiederholenden Handgriffe taten, aber er sagte es stets in einem so bekümmerten, gleichsam untröstlichen Ton: „Ach ja, Tüchtigkeit konnte auch seine Schattenseiten haben.“ Frau Helmers jedenfalls war tüchtig in einem Sinne, daß einen das Grauen ankommen konnte. Kein Staubkorn war vor ihr sicher, aber auch keine Pfeife, die ein Mann eben doch am Abend mal rauchen wollte, und Gemütlichkeit war ihr wohl von jeher ein Fremdwort gewesen. Sie hatte selbst zwei Kinder gehabt, die immer in gestärkten Schürzen und wasserfesten Scheiteln zur Schule gegangen waren, sehr artig, sehr adrett, immer pünktlich, und das größere Mädel den kleinen Jungen stets an der Hand hinter sich herziehend; nie ließ sie ihn los, ach nein. Aber fröhlich hatten diese Kinder wohl nie ausgesehen, und daß man nun, da diese Kinder groß und für sich selbst verantwortlich waren, an fremden Kindern Spaß haben sollte, noch dazu an solch einer stets zerzausten und zerwehten Ulla, das konnte kein Mensch erwarten, am wenigsten Herr Jesumann, am allerwenigsten bestimmt Ulla selbst.

      Trotzdem war es schade. So schön war es gewesen diesen ersten Sommer lang, als Ulla noch jeden Tag in der Gärtnerei sein durfte; als Herr Jesumann noch allein hauste und überall seine Pfeife ausklopfen durfte, als man noch nicht nach dem Tor schielte, ob „sie“ etwa käme. Heute war es wieder ein bißchen so wie damals, aber die Sonnabende waren so selten in der Woche, und außerhalb der Ferien hatte man sie ja auch nur halb.

      Während Ulla, eine große und dicke Klappschnitte in der einen, eine Tomate in der andern Hand, neben Herrn Jesumann herging, erklärte und zeigte er ihr alles, was sie seit dem vorigen Mal noch nicht gesehen hatte, neue Stecklinge und umgetopfte Blumen, und dann sagte er, sie wollten doch mal nach dem Pflaumenbaum gucken, er hätte bestimmt etwas abzugeben.

      Seltsam, daß hier, in der Gärtnerei, solch ein nebliger Frühherbsttag gar nicht bedrückend wirkte wie in der Stadt, sondern vielmehr geheimnisvoll, verheißend, vielversprechend. Die Pflaumen waren so frisch und betaut, wie sie da hingen und im Grase lagen. Es war nicht nur, daß sie gut schmeckten, sondern sie waren wie lebendig, eine lebendige Frucht einer Jahresarbeit, Zeugen liebevoller Behandlung lebendiger Wesen.

      „Bei uns zu Hause hatten wir auch —“, sagte Ulla, während sie eifrig sammelte; wie oft hatte sie Herrn Jesumann von ihrem Garten erzählt, und immer hatte er aufmerksam und teilnehmend gelauscht. Was für Christine die heimatliche Wohnung, war für Ulla der Garten gewesen; sie trug ihn im Herzen und sprach von ihm zu niemanden als zu Herrn Jesumann, zu ihm aber immer wieder. Nur daß man eben zu Hause immerfort im Garten war und sein durfte und hier nur so selten ...

      Der Tag war strahlend geworden und verschwamm jetzt in einen mattgoldenen Abend, als Ron die wacklige Treppe vom Oberboden herabgeklettert kam und in den Hof hinaustrat. Endlich! Es war bestimmt schon sechs durch. Sie hatten Tabak gefädelt. Er durfte nicht liegenbleiben, sonst wurde er heiß; jetzt hing er da oben an langen Fäden und konnte trocknen. Es war eine häßliche Arbeit, aber sie mußte sein. Jetzt nur schnell umziehen und fort. Sie war mittags nur auf einen Sprung im Chausseehaus gewesen und wußte nicht, ob Matthias noch dort war; sie hoffte es, er hatte es aber nicht versprochen. Vielleicht fürchtete sich Wolf doch ein bißchen, wenn er allein war. Ron fuhr schnell in ihr Dirndl und packte die Arbeitskluft unter den Arm. Nur fort, nur hinüber.

      Auf der Dorfstraße traf sie Frau Struve, eine rundliche, blonde, immer freundliche Frau, bei der es manchmal etwas Magermilch gab, ohne daß Ron darum zu bitten brauchte. Sie hatte vom Schicksal der

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