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Die Haimonskinder. Lise Gast
Читать онлайн.Название Die Haimonskinder
Год выпуска 0
isbn 9788711508978
Автор произведения Lise Gast
Издательство Bookwire
Er half nicht viel, eigentlich gar nicht. Sie kannte ihn jetzt ungefähr ein Vierteljahr. Ja, es war Ende Mai gewesen, als sie ihn das erstemal traf. Und zu Anfang hatten sie sich nur zufällig und oft nur im Abstand von vielen Tagen gesehen.
Ron schichtete die Tabakblätter sorgsam, wenn auch geistesabwesend aufeinander, während sie mit „Ja“ und „Nein, wirklich?“ auf die Fragen der neben ihr arbeitenden älteren Frau einzugehen schien. Erst als sie hörte, daß der Tabak noch heute aufgefädelt werden müsse, wurde sie ganz wach. Also nichts mit freiem Sonnabendnachmittag. Nun, etwas Mohn würde sie wohl auch noch nach Feierabend brechen können, und hinüberspringen mußte sie mittags, das war ganz unbedingt nötig.
In der Frühstückspause lief sie umher und sammelte noch mehr Futter, und dann legte sie sich in die Sonne, die linke Armbeuge über dem Gesicht als Schutz vor der jetzt warm und freundlich strahlenden Sonne, und schlief trotz aller Sorgen sofort und tief ein. Das war das Herrliche an der Landarbeit, daß man so im Gleichmaß blieb. Man aß, man schlief, und wenn man aufwachte, sah alles wieder anders und besser aus. Es mußten doch Kräfte im Boden stecken, die sich einem mitteilten, ohne daß man etwas dazuzutun brauchte. Ron glaubte ganz fest, daß dieses Schlafen in der Ackerfurche einen stark mache. Nie, nie war sie beim Enttrümmern so ruhig und beruhigt eingeschlafen wie hier jeden Tag, vormittags und nachmittags, wenn die ersehnte und nie ausbleibende Arbeitspause geboten wurde ...
Christine hatte noch einen Augenblick an der Haustür gestanden, nachdem die beiden sich verabschiedet hatten — nur einen Augenblick. Denn es war kalt und neblig; der Nebel bemächtigte sich auch sofort der beiden Gestalten, der großen und der kleinen, und hüllte sie ein, so daß es keinen Zweck hatte, ihnen nachzuwinken. Ja, es wurde Herbst; aber anders Herbst als zu Hause. Da war der Nebel silbern gewesen, und wenn er sich in der hervorbrechenden Sonne löste, schwamm das Land in einem zarten, matten Goldglanz.
Christine lief die Treppe hinauf und klinkte leise auf. Ulla schlief noch. Eigentlich wäre es ja besser, man bliebe wach — aber das zweite Bett, das, aus dem soeben Ron und Wolf gekrochen waren, stand da so allein und einladend. Wann hatte man schon einmal ein Bett für sich. Es winkte förmlich. Christine zog das Kleid über den Kopf und kuschelte sich unter das Deckbett, ach wunderbar, wunderbar. Nur einen Augenblick, nur, bis die Hände nicht mehr so klamm waren —
Sie schlief sofort und ohne Übergang ein. Und ebenso rasch und übergangslos stellte sich der Traum ein, den sie im Wachen angefangen hatte zu träumen — der ewig, immer wiederkehrende Traum: Es wäre alles nicht wahr und sie daheim. Christine schluchzte dumpf und erstickt im Traum, obwohl sie das mit dem letzten Schimmer des Bewußtseins, der ihr geblieben war, eigentlich dumm fand — man brauchte doch nicht zu weinen, wenn man zu Hause war ...
Sie war daheim auf dem Dachboden, und es mußte Herbst sein, genau wie jetzt in Wirklichkeit, aber eben Herbst daheim, schöner, strahlender, farbenkräftiger Herbst. Durch das schräge Dachfenster quoll ein Strom von Licht; das kam daher, daß die Sonne jetzt draußen auf den Kastanien lag, die bunt gefärbt waren in allen Schattierungen vom Schwefelgelb bis zum dunklen Rostrot. Und es roch so herrlich, es roch so weit, man atmete unwillkürlich tief und voller Genuß.
Christine stöhnte. Sie wollte das Dachfenster erreichen und konnte nicht bis dahin gelangen, so sehr sie sich auch reckte. Und sie wußte, wenn sie jetzt nicht hinkam, würde sie es nie erreichen.
Es war, als könnte man nicht einmal mehr im Traum glücklich sein. Zu oft hatte sie schon dasselbe geträumt und war dann wiederum aufgewacht, enttäuscht und verarmt.
Das war es wohl, worunter Christine am meisten litt, diese Enge hier, dies fürchterliche Zusammengepfropftsein, dieses Unentrinnbare in ihrem jetzigen Leben. Ron empfand das nicht so, sie war an sich acht, in Wirklichkeit meist elf Stunden am Tag draußen. Wenn sie dann glücklich eintrudelte, war sie erstens richtig durchweht von der frischen Luft und zweitens todmüde, so daß sie im Grunde nichts anderes mehr brauchte als eine Ecke, in die sie sich verkroch, um zu schlafen. Sie, Christine, hatte ihren Beruf, ihre Arbeit hier, in der winzigen Stube, die kaum die beiden Betten faßte, wo überall Klamotten lagen oder hingen oder in Schachteln verstaut unter den Betten standen und einen zur Verzweiflung brachten, wenn man fegte oder wischte. Und es roch so muffig, immer, zu jeder Tages- und Jahreszeit; es war, als lüftete keine von den siebzehn Mietsparteien in diesem schrecklichen Kasten von Haus jemals ihre Zimmer.
„Menschenskind, Tine, das klingt ja ganz erbärmlich“, hörte sie jetzt eine Stimme: Ullas Stimme. Sie griff um sich und faßte in Ullas Schopf. Erschrocken riß sie die Augen auf. Nun hatten sie wohl Ullas Schulzeit verschlafen?
Nein, zum Glück nicht, denn heute war Sonnabend und Ulla mußte nicht zur Schule. Erleichtert, aber gleichzeitig auch schwach und matt von der Angst im Traum und dem Erwachen in die freudlose Wirklichkeit hinein, ließ sie sich zurücksinken.
„Ich hatte von zu Hause geträumt ...“
„Deshalb brauchst du doch nicht so anzugeben, es klang gefährlich“, murmelte Ulla, schon wieder im andern Bett. Ihr Ton war so vergnügt, daß es Christine ein bißchen tröstete. Ulla war ein Nichtsnutz, ein Kind, das überhaupt keinen Daseinszweck zu haben schien als den, zu essen, Sachen schmutzig zu machen und zu zerreißen und daraufhin hochbefriedigt zu schlafen in der weitaus breiteren Hälfte des gemeinsamen Bettes. Aber sie war fast immer vergnügt.
„Ich hab’ auch von zu Hause geträumt“, sagte sie jetzt, „aber sowas Komisches! Vater stand im Wohnzimmer und sagte — ja, er sagte etwas fürchterlich Komisches, aber ich weiß nicht mehr, was ...“
„Besinnst du dich denn noch aufs Wohnzimmer?“ fragte Christine zaghaft und ein bißchen gerührt. Ulla war fünf Jahre alt gewesen, als sie flüchteten, jetzt war sie acht. Ulla und Wolf waren die zweite Auflage der Haimonskinder, wie Vater manchmal gesagt hatte, sie und Ron die erste.
„Natürlich. Über dem Sofa hing das Bild von der Großmutter, und das von der Urgroßmutter neben der Uhr — ich dachte immer, deshalb heißt sie so“, sagte Ulla. Christine lachte. Ach, auf einmal war alles fort, alle Bedrückung des Schlafens und Wachens, alle Angst vor dem Leben und den Menschen, alle Unbegreiflichkeit des „Niemalswieder“. Sie sah das Wohnzimmer vor sich, niedrig, aber weiträumig und von jener wunderbar quadratischen Form, die sich ganz von selbst einrichtet. Alle einigermaßen schönen Möbel wirken darin sofort traulich und gemütlich, ob viel oder wenige, nun, und ihre Möbel erst ... Christine hatte sich schon als kleines Kind so sehr für „Einrichten“ interessiert. Ihr liebstes Spiel war, Stuben zu bauen, ob nun im Garten, im Heu, oder im Winter in der Kinder- oder Wohnstube. Sie rückte Kisten und baute Sofas, sie stellte Blumentöpfe in gedachte Fenster und baute Eckbänke, und ihr, gerade ihr, mußte das Schicksal diese bittere Heimatlosigkeit auferlegen. So war sie jetzt warm angerührt, als sie merkte, daß Ulla im Geiste noch ganz zu Hause war. Daß sie und auch Wolf die Eltern nach den wenigen geretteten Fotos kannten, war klar. Aber die Stuben, die Räume, das Zuhause, das man eben nur im Herzen bewahren kann, ohne einen einzigen Anhaltspunkt von Bild oder Schrift ...
„Weißt du, wenn ich groß bin, gibt’s bei mir mal keine Couch“, sagte Christine jetzt, „bloß ein Sofa und einen runden Tisch davor. Einen polierten, und da leg ich dann eine Filetdecke drüber, weißt du, so eine, die aus lauter Fäden geknüpft ist, so daß man die Platte durchsieht — und darauf stell ich eine Vase mit einem einzigen Blütenstengel darin, keine dicken, bunten Sträuße. Und eine Eckvitrine muß ich haben, so wie die zu Hause rechts, wenn man hereinkam, die mit den dünnen Beinen, weißt du noch?“
„Ja, an der hab’ ich mich mal furchtbar geschlagen. Ron rannte hinter mir her und scheuchte mich, und da flog ich über die Teppichecke —“
„Ja, einen Teppich muß ich auch mal haben. Dielenscheuern ist scheußlich; man sieht nie, was man gemacht hat. Sofort sind sie wieder schmutzig. Linoleum und einen Teppich in der Mitte —“
Ulla