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Kinder der Zeit. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Kinder der Zeit
Год выпуска 0
isbn 9788711507209
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Wem gehört denn das Gut?“ fragte Gotthold geistesabwesend.
„Einem Herrn von Nemerow. Alleinstehender junger Mann. Eben aus dem Krieg zurück.“
„Und der verkauft?“
„Muss er ooch! Das Objekt gehört in starke Hände. Überschuldet bis in die Puppen. Eigentlich schon Konkurs eröffnet — seit einem halben Jahr — seit dem Tod des Alten!
Vom Gläubigerauschuss verwaltet!“ August hob drohend den Stock. „Du — wenn wir das Ding jetzt frisch auflackieren — dass du da nicht etwa gleich in deinem Teil ’ne Epileptikerkolonie gründest oder ein Asyl für arbeitslose Magdalenen mit vierzig reuigen Betten! . . . Säh’ dir so ähnlich!“
,,Spotte nicht über das Unglück der Menschen!“ sagte Dr. Bartuschte. „Wir stammen selbst aus dem Volk.“
„Kleiner Schäfer! Deswegen steigst du ja auch so jern zu den Töchtern des Volks hernieder.“
„Das steht auf einem anderen Blatt!“
„Oller Schwiemel . . . Dir kenn ick doch!“
„Ich bin ein Mensch!“ Gotthold Bartuschke stützte trübe den Kopf in die Hand. „Leider — und den Sünden des Bluts unterworfen.“ Plötzlich fuhr er wütend im Sessel herum und schnaubte den Bruder an: „. . . und ausserdem kümmert’s dich den Kuckuck . . .“
„. . . wo du deine Liebschaften hast — hier in C und O mit Ick und Det . . . Nee — danke! War mal! Ich bin jetzt für WW. Für das Feinere — verstehste?“
„Es ist immer viel Mitleid in meiner Liebe“, sagte Gotthold Bartuschke halblaut. ,,Deswegen bleib’ ich hier draussen . . . wo die letzten Häuser sind . . .“
„Also viel Verjnüjen! Mahlzeit! — Jeh nur zu ihr . . .“
„Zu wem?“
„Irgend ’ne Seelenfreundin wirst du doch auf Lager haben! Haste doch immer!“
„Augenblicklich keine!“ Gotthold Bartuschke sass am Tisch und starrte gedrückt vor sich hin. „Ich habe wieder zu trübe Erfahrungen gemacht . . .“
August lachte fast bis zu Tränen.
„Klassischer Kerl! Na . . . ich krieg nu talte Füsse . . . Du, übrigens: Draussen sitzt deine neue Dame . . . hab’ ich dir verschafft . . . rein per Zufall . . . Gottvolle Kröte! Klein, aber oho! Die musst du an deinem Busen grossziehen! In der steckt was! Die wird was!
Dr. Bartuschke, sass, als der Bruder gegangen, noch eine Weile still in Gedanken. Das immer tiefere Dämmern um ihn beruhigte seine Nerven. Er gähnte gereizt. Er schlürfte durch das Zimmer. Er stand vornübergebeugt, die Hände in den Taschen, vor seinem grossen Bücherschrank. Da drinnen wimmelte die Welt der Ausgestossenen — der geisteskranken Verbrecher, der Epileptiker und Degenerierten, der Minderwertigen, der Willenshörigen, der Anormalen und bedingt Zurechnungsfähigen. Er sah seine Lieblinge an. Befann sich. Seufzte. Knipste Licht. Schlug träumerisch ein paar Töne auf dem Klavier . . . Parsifal . . . durch Mitleid wissend, der reine Tor . . .
„Nu klopft er drinnen noch die Kreuzpolka“, sagte im Vorraum Fräulein Zwicknagel entrüstet zu dem jungen Mann. „Und wir kriegen hier bei die Kälte die Eisbeine jratis! Sie haben sich wohl mit dem Vize jezankt, dass der Susemihl nicht mehr heizt? Organisiert euch doch gegen die Hauspaschas — die Blutsaujer . . .“ Aber da klappte innen der Klavierdeckel. Der bleiche Schreiberjüngling öffnete die Tür: „Herr Doktor lässt bitten.“
Alwine Zwicknagel trat bescheiden lächelnd unter dem wippenden Federhut, fliederfarben wie der Frühling, ganz schwach veilchenduftend von dem Sträusschen an ihrer Brust, mit einer anmutigen Köpschenneigung über die Schwelle. Draussen, vom Norden her, knatterten unausgesetzt Schüsse. Die Fensterscheiben, vor denen die Nacht stockfinster dunkelte, klirrten leise. Dr. Bartuschte kam aufgeregt auf die junge Dame zu.
„Ich mache mir die grössten Vorwürfe!“ sagte er. „Ich halte Sie hier fest. Inzwischen geht das widerwärtige, sinnlose, blöde Geknalle wieder los! Sie müssen doch nach Hause!“
„Ich find’ schon durch, Herr Doktor!“
„Das Schiessen kommt wahrhaftig näher!“ Dr. Bartuschke lauschte nervös. „Wenn sie nur nicht wieder drüben am Polizeipräsidium . . .“
„Ich bin mit Spreewasser jetauft, Herr Doktor! Ich fürchte mich nich!“
„So? Na — mir sind Schüsse grässlich! Weniger die Gefahr als der Lärm! Namentlich diese albernen Handgranaten!. Der Krach geht mir jedesmal durch Mark und Bein!“ Gotthold Bartuschke winkte matt und blass mit der Hand. „Setzen Sie sich, Fräulein Zwicknagel!“
Alwine nahm zierlich Platz, kreuzte neckisch die kleinen Füsse in den netten Lackschuhen und schaute Dr. Bartuschke gewinnend an. Der sass nicht, sondern lief unbehaglich durch das Zimmer. Draussen, in der Novembernacht, wurde es plötzlich ganz still. Die Kleine, die sittig nur auf dem Lederrand des mächtigen Klubsessels sass, tröstete ihn.
„Sehen Sie, da verpusten sich die Brüder schon! Is alles nich so schlimm, Herr Doktor!“
Gotthold Bartuschke blieb aufgeregt vor ihr stehen. Er fragte unvermittelt — gedämpft und warnend:
„Also Sie wollen zu mir?“
„Ich möchte was Besonderes, Herr Doktor!“ Alwine Zwicknagel legte die elegant behandschuhten Finger ineinander und hob das Kindergesicht mit sanftem Augenaufschlag zu ihm empor. „Immer nur tippen: . . . ,Und überlassen Ihnen fünfzig Fass loco Magdeburg und dienen Ihnen tieferstehend mit Nota’ — da liegt keine Musitze drin! Da lernt man nichts zu. Bei Ihnen aber . . .“
„Bei mir . . .?“ Dr. Bartuschke fixierte sie wild und warf dann einen erbitterten Blick in den Wandspiegel, als sähe er da in seinem Ebenbild einen persönlichen Feind. „Wissen Sie, dass ich ein ganz nervöser Mensch bin?“
„Ich passe mich schon an, Herr Doktor! Das ist jerade meine Forsche!“
„. . . dass ich . . . dass ich manchmal, wenn’s mich so kribbelt, die Wände hinaufgehe!“
„Jeh ich mit, Herr Doktor!“ beruhigte die Kleine.
Gotthold Bartuschke lachte plötzlich belustigt. Die trübe Stimmung verflog.
„Mein Bruder sagt, Sie feien mit allen Hunden gehetzt, Fräulein!“
„Sehr schmeichelhaft, Herr Doktor! Is wirklich alles da: Sehr rasche Auffassungsjabe . . . Selbständige Kraft . . . Wie ich da sitze, deichsel’ ich zur Not den Betrieb allein! Wenn ich erst Herr Doktors Wünsche näher begriffen habe, dann is Herr Doktor aus allem Ärger mit der Korrespondenz heraus. Nehm’ ich Ihnen alles ab!“
„Aus dem Ärger ’raus — ach — das wär’ ein Segen!“ Dr. Bartuschke lief wieder jäh verstört durch das Zimmer. „Augenblicklich bin ich zum Beispiel ohne jede Hilfe!“
„Irässlich!“
„Was hab’ ich mit Ihrer Vorgängerin für Tänze gehabt!“ Bartuschke schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. „Das war keine Sekretärin! Das war eine Natter!“
„Jotte doch!“
„Ich verlange lebendige Teilnahme!“ schrie Dr. Bartuschke. „Mitgehen mit meinen Ideen! Feuer! Wärme! Verständnis!“ . . .
„Inniges Verständnis! . . . Finden Sie bei mir, Herr Doktor!“
„Dieses Fräulein Kandel . . . häh . . . der war ja alles piepe!