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Angst vor dem Urteil des Konsiliums zu haben.

       Aber wenn er so rational ist, wie du glaubst – was macht er dann halb ertrunken am Ufer eines gesperrten Sees?

      »Skye?«

      Bei dem entfernten Klang von Elias’ besorgter Stimme fahre ich zusammen und schaue an mir herunter. Meine Schlafanzughose klebt an meinen von Schrammen übersäten Beinen, aus meiner Strickjacke und meinen Haaren tropft das Seewasser.

      »Dir ist klar, dass niemand erfahren darf, was heute Nacht passiert ist?« Colin rappelt sich mühsam auf. »Nicht einmal Elias.« Seine Stimme klingt noch ein wenig rau vom Wasser, doch das kaschiert ihren drohenden Unterton nicht im Geringsten.

      »Skye!«

      Ich höre, wie Elias uns immer näher kommt, und wünsche mir, seinen Namen in die Nacht rufen zu dürfen, damit er mich findet und das alles hier ein Ende hat.

      Ich fixiere Colin. »Bist du gefallen?«, bricht es aus mir heraus.

      »Was denkst du denn?«, erwidert Colin. »Ich wollte bloß den Kopf frei kriegen und habe die Kante übersehen. Selbstmord ist was für Emotionale.«

      »Natürlich.«

      Rationale finden für alles eine Lösung. Colin würde nicht einmal daran denken, sich derart von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen.

       Und warum war er dann überhaupt hier?

      Ich streiche mir die nassen Haare aus der Stirn.

      »Hör mir zu, Skye. Niemand von uns sollte in einer gesperrten Zone sein. Du hast eine gewaltige Dummheit begangen.« Colin scheint nicht zu bemerken, dass er meinen Arm gepackt hat. Sein fester Griff schmerzt.

      »Ich habe eine Dummheit begangen? Ich habe dich gerettet!« Aufgebracht reiße ich mich los. Behandelt Colin mich ab und an herablassend? Ja. Sieht er mich nur, wenn ich im Doppelpack mit Elias auftauche? Normalerweise. Trotzdem hat er noch nie versucht, mir Angst zu machen. Ich weiche einen Schritt zurück.

      »Sie werden erfahren, dass wir emotional gehandelt haben.« Colin senkt seine Stimme zu einem Flüstern. »Wenn Elias es weiß, werden sie es erfahren.«

      Ich spüre dasselbe Adrenalin zurück in meine Adern fließen, das mich gegen die Strömung gewinnen ließ. Colins Worte ergeben keinen Sinn, aber warum fühle ich mich dennoch, als wäre ich jetzt in größerer Gefahr als in den Strudeln des Sees? Durch das Unterholz dringen eilige Schritte an mein Ohr.

      »Halte dich links, wenn du ihm nicht begegnen willst«, sage ich tonlos und Colin nickt.

      »Ich nehme das als Einverständnis.« Er ist schon fast zwischen den Büschen verschwunden, als er sich noch einmal umdreht. »Skye? Danke.«

      Unsere Blicke kreuzen sich. Während ich beobachte, wie er geräuschlos im Wald verschwindet, frage ich mich, ob Colins Worte weniger eine Drohung als eine Warnung waren. Er mag über dem Bescheid die Beherrschung verloren haben, aber Hals über Kopf in einen See mit tödlicher Strömung zu springen, wie ich es getan habe, war nicht weniger impulsiv. Eine Rationale hätte nicht zwei Leben riskiert, sie hätte Hilfe geholt, klar gedacht, die Situation analysiert. Schaudernd schlinge ich meine Arme um meinen Oberkörper.

      Nie zuvor in meinem Leben habe ich ernsthaft daran gezweifelt, wer ich bin. Bis jetzt.

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      Skye!«

      Elias tritt aus dem Schatten der Bäume und ich laufe ihm entgegen. Er nimmt mich wortlos in den Arm, und für eine Sekunde durchströmen mich Elias’ Wärme und ein Gefühl von Sicherheit, bevor er den Reißverschluss seiner Jacke aufzieht und sie mir um die Schultern legt.

      »Warum hast du nicht am Baumstamm gewartet?« Seine Stimme überschlägt sich nicht mehr, seit er sieht, dass es mir gut geht.

      »Ich habe ein Geräusch gehört«, sage ich zögernd. Niemand darf erfahren, was wir getan haben. Nicht einmal Elias. »Dem bin ich gefolgt.«

      »Jemand anders war hier?«, fragt Elias alarmiert und schiebt mich ein wenig von sich, um mir in die Augen sehen zu können.

      »Nein. Es muss ein Tier gewesen sein. Und dann bin ich ausgerutscht.« Ich vertreibe das Bild von Colins totenblassem Gesicht gewaltsam aus meinem Kopf.

      »Ein Glück, dass du nicht in die Strömung geraten bist. Da wärst du allein nie wieder rausgekommen.« Elias reibt mit beiden Händen über meine Arme. »Wird dir langsam wieder warm?«

      Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wangen, um die Tränen zurückzuhalten, die in mir aufzusteigen drohen. Wenn das Konsilium von den Ereignissen dieser Nacht erfährt, könnte ich alles verlieren. Elias’ samtgraue Augen suchen meine, doch ich weiche seinem besorgten Blick aus. Ich könnte ihn verlieren.

      »Willst du zurückgehen?« Ich schüttle den Kopf. Allein sein ist das Letzte, was ich jetzt will. Elias denkt einen Moment nach, dann greift er nach meiner Hand. »Komm. Ich kenne einen Ort, der dich den Schreck vergessen lässt.«

      Ich folge ihm über Wege, die mit bloßem Auge nicht erkennbar sind. In meinem Gedächtnis sind sie jedoch noch genauso tief eingegraben wie in seinem. Langsam lichten sich die Bäume um uns herum, und wir gelangen zu einer kleinen Bucht, die von Felsen gesäumt in den See mündet. Ich ziehe Elias’ Jacke enger um mich und fühle mich auf einmal wieder wie die Zwölfjährige, die diesen versteckten Strand zum ersten Mal sieht.

       »Wir können hierbleiben. Sie werden uns nicht finden.«

       »Meine Eltern machen sich bestimmt Sorgen. Und dein Dad wird ja schon wahnsinnig, wenn du zehn Minuten zu spät von der Schule nach Hause kommst.«

       »Vielleicht hast du recht.«

      In dem Sommer, als meine Mutter uns verließ, schien in meiner Erinnerung an jedem einzelnen Tag die Sonne. Es war das Jahr nach dem großen Skandal. Während Dad vor dem Fernseher im Wohnzimmer saß und mit starrem Blick die Wiederholung der Parade verfolgte, zog ich einen widerwilligen Elias hinter mir her durch die Lücke in der Hecke, entschlossen, meinem freudlosen Zuhause zumindest für ein paar Stunden zu entfliehen. Früher an diesem Tag hatte Dad den großen Kleiderschrank im Schlafzimmer ausgeräumt und Mums Bilder in die Mülltonne geworfen.

      »Sie kommt nicht zurück. Nie wieder.« Es ist das einzige Gespräch, das wir jemals zu diesem Thema geführt haben.

      Für einen Moment flackert mein Blick zu den beiden ineinander verkeilten Felsen am Rande der Bucht, die weit genug von der Wasserkante entfernt liegen, um vor den Wellen geschützt zu sein. Sicher in dem Felsspalt verborgen befindet sich eine Kiste, die ich damals ohne Elias’ Hilfe versteckt habe, denn ihr Inhalt war selbst für meinen besten Freund zu privat: meine einzigen Andenken an Mum, die ich vor Dads Wut retten konnte.

      »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

      Ich löse meinen Blick von den Felsen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Erinnerungen nachzuhängen.

      »Ja«, erwidere ich. »Es war bloß der Schreck, wie du gesagt hast.«

      Wir laufen eine Weile am Ufer des Sees entlang. Als wir das Ende des kleinen Strandes erreichen, klettert Elias als Erster auf die Klippe. Ich fahre mit den Fingern über den kühlen grauen Stein, dessen Plateau uns früher so hoch erschienen ist, bevor ich mich ebenfalls heraufziehe. Elias lässt seinen Blick über den See schweifen, in den sich das Licht des Vollmonds wie flüssiges Silber ergießt.

      »Übermorgen ist verdammt bald«, sagt er in die Stille hinein.

      Ich nicke und hoffe, dass er glaubt, der vorgezogene Testungsbescheid wäre alles, was mich so durcheinanderbringt.

      »Ich wünschte nur, wir wüssten mehr darüber, als dass wir vier Wochen lang mit einer Gruppe von Psychologen im Athene-Zentrum

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