Скачать книгу

meine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Elias wollte mich küssen … Was ist nur in mich gefahren, als ich gestern Nacht einfach weggelaufen bin? Elias und ich, das ist das perfekte Leben, das ich mir immer ausgemalt habe. Ich will ihn, genauso wie ich das R auf meinem Handgelenk will. Aber ich musste uns vor einem Fehler bewahren, der vielleicht unsere Zukunft zerstört hätte. Küsse in einer gesperrten Zone sind schließlich alles andere als zurückhaltend und kontrolliert – und das ist es, was die Gläsernen Nationen von Rationalen erwarten. Ich nicke, wie um diese Erklärung für meine überstürzte Flucht zu bestätigen. Eine andere kann es schließlich nicht geben, oder?

      Meine Fußspitze wippt auf und ab. Sobald Elias kommt, werde ich ihm die Wahrheit sagen. Über alles, was gestern Nacht geschehen ist. Über ihn, mich, Colin. Er wird mich verstehen. Und er wird uns eine zweite Chance geben. Schließlich ist er in mich verliebt, oder nicht?

      »Ist der Platz noch frei?«

      Klirrend fällt meine Gabel zu Boden. Ich hebe sie hastig auf, während mein Blick von Fionas fragendem Gesicht zur Essensausgabe huscht, wo nur noch wenige Schüler anstehen. Die Pause ist fast zu Ende. Wo bleibt Elias?

      »Klar«, seufze ich.

      Fiona setzt sich und beißt in ihr Sandwich. »Coach Verse war ganz schön gnadenlos – dafür, dass heute sowieso unser letztes Training war.« Sie lächelt mir zu, schon wieder oder immer noch, und ich frage mich, wie Fiona so ruhig bleiben kann. Aber wahrscheinlich hätte auch ich mich längst von dem Schock der vorgezogenen Testung erholt, wenn ich noch dieselbe wäre, die gestern auf diesem Stuhl gesessen hat. Wenn ich inzwischen nicht wüsste, dass ich in den vier Wochen im Zentrum alles verlieren kann, was mir wichtig ist. Ich muss herausfinden, was mich gestern dazu gebracht hat, in eine tödliche Strömung zu springen. Ich muss diesen gefährlichen Teil von mir unter Kontrolle bringen, und zwar, bevor ich morgen früh in den Zug steige!

      »Ist es wegen Jasmine?«, fragt Fiona, die bemerkt hat, dass etwas nicht stimmt. »Mach dir keine Sorgen. Sie wird sich schneller ein anderes Opfer suchen, als du glaubst.«

      Ich mache eine vage Bewegung mit dem Kopf. Soll Fiona doch glauben, dass es mir etwas ausmacht, wenn Kelly, Zahra und der Rest von Jasmines Hofstaat hinter meinem Rücken über mich lästern. Ich wusste, was ich mir einhandele, als ich ihr im Duschraum die Meinung gesagt habe.

      »Wenn sie nicht aufpasst, wird diese Impulsivität noch ihre Testung ruinieren«, fährt Fiona nachdenklich fort. »Für euch kommt ein E auf dem Handgelenk ja einem Weltuntergang gleich.«

      Ich mustere Fionas rundes Gesicht und ihre blonden Korkenzieherlocken. Ihre Stimme klang fast, als würde sie sich über uns lustig machen.

      »Ich hoffe bloß, dass meine Eltern bald ihre Anträge auf Kristallisierung stellen, sonst kann ich die Hochschule für Erziehung vergessen.« Fionas Lächeln verschwindet, und zum ersten Mal frage ich mich, welche Alternativen denjenigen bleiben, deren Eltern kein Einsehen haben. Fast alle Berufe, ob im emotionalen oder rationalen Sektor, verlangen ein Studium oder eine schulische Ausbildung.

      »Bestimmt tun sie das.« Ich drücke Fionas Hand.

      Dad hat mir beigebracht, dankbar für die Emotionalen zu sein. Ohne ihre natürliche Fürsorge würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren, genauso wie niemand ohne die Leitung und den Weitblick der Rationalen zurechtkäme. Trotzdem kann ich mir ein Leben nicht vorstellen, das zum Schutz vor meinen eigenen Gefühlen von anderen gelenkt wird. Ein Leben ohne Elias an meiner Seite. Zum hundertsten Mal an diesem Morgen kontrolliere ich mein Handy, aber er hat mir keine Nachricht geschrieben. Ein Kloß formt sich in meinem Hals.

      »Sag mal, weißt du, wie das jetzt mit unserem Abschluss geregelt wird?«, fragt Fiona. »Normalerweise werden ja nur fertige Absolventen zur Testung einberufen. Wir haben doch noch gar nicht alle Prüfungen –« Sie stockt und auf einmal verstummen auch die anderen Gespräche um uns herum.

      Mit pochendem Herzen drehe ich mich zu dem großen Bildschirm über der Essensausgabe um, auf dem stumm die Morgennachrichten laufen. Jemand stellt den Ton an.

       »Teile einer Schuluniform der Serenity-Highschool wurden in der gesperrten Zone des Upperlake-Sees gefunden. Wird ein Schüler vermisst?«

      Es erscheint ein Bild desselben himmelblauen Pullovers, den jeder Junge hier im Raum trägt. Nur wurde dieser hier vom Kragen abwärts aufgerissen. Und zwar von mir.

      »Wir müssen davon ausgehen, dass ein Junge am See in Gefahr geraten ist. Unsere Ordnungswahrer werden in Kooperation mit der Polizei alles tun, um den Fall aufzuklären.« Der Mann, der diese Worte in das Mikrofon spricht, ist mein Vater. Er steht auf den Stufen des Weißen Hauses, oder besser gesagt seiner detailgetreuen Nachbildung im Herzen unserer neuen Hauptstadt. Eine Windböe fährt durch die Baumwipfel des Central Park und die Reporter halten ihre Mikrofone noch dichter vor Dads Gesicht. »Der See ist ein unsicheres Gebiet, aber sollte es einen Vermissten geben, haben wir noch eine realistische Chance, ihn lebend zu bergen.«

      Das Summen von hundert Stimmen erfüllt die Cafeteria, während ich wie gelähmt auf meinem Stuhl sitze. Ist der See doch nicht so unbeobachtet, wie ich immer geglaubt habe? Am Nebentisch starrt Colin mit schreckgeweiteten Augen auf den Bildschirm, obwohl der Bericht längst durch das Wetter ersetzt wurde. Ich weiß, dass er sich die gleiche Frage stellt wie ich: Welche Schlüsse werden die Behörden ziehen, wenn sie herausfinden, dass es gar keinen Vermissten gibt?

      »Es ist nichts«, fährt er Kelly an, die ihre Hand besorgt nach ihm ausgestreckt hat und sie nun erschrocken zurückzieht.

      »Fiona, hast du Elias heute schon gesehen?«, frage ich mit blecherner Stimme. Was auch immer er über gestern denkt, ich brauche ihn jetzt.

      Fiona nickt. »Klar, du nicht? Ich dachte, ihr nehmt immer den Bus zusammen.«

      »Mein Vater hat mich heute mit dem Auto gebracht«, erkläre ich und schlucke bei dem Gedanken an Dad. Ist es purer Zufall, dass er heute darauf bestanden hat, mich zur Schule zu fahren, oder ahnt er, was ich getan habe?

      »Elias ist auf jeden Fall nicht vom See verschlungen worden, mach dir keine Sorgen«, sagt Fiona und lächelt schon wieder. »Wir hatten heute Morgen zusammen Chemie. Er wirkte ein bisschen mitgenommen, wenn du mich fragst.«

      »Hat er irgendetwas zu dir gesagt?«

      Fionas Lächeln gefriert und ich senke den Blick. Was für eine dumme Frage. Natürlich spricht Elias nicht mit ihr. Oft genug habe ich mich darüber geärgert, wie er sich von seinen Freunden beeinflussen lässt, die auf alle herabsehen, die keine Rationalen sein werden. Oder keine Rationalen werden wollen, füge ich nach einem Blick auf Fiona hinzu.

      »Er hat Colin gefragt, wann unser Training vorbei ist«, sagt sie mit undurchdringlicher Miene. »Er muss dich danach wohl verpasst haben.«

      Der Gong beendet die Pause, und meine Hände zittern vor Erleichterung, als ich mein Tablett in die Ablage für das dreckige Geschirr schiebe. Elias will mit mir reden. Er hat nach mir gesucht! Vielleicht habe ich gestern Nacht ja doch nicht alles zwischen uns ruiniert. Ich folge Fiona zum Ausgang der Cafeteria.

      »Hoffentlich schaffen wir es noch rechtzeitig in die Aula«, sagt sie und wirft einen besorgten Blick auf die Schülermassen, die sich durch die Gänge drängen.

      Ich hätte die Versammlung fast vergessen, obwohl Coach Verse beim Training angekündigt hat, dass deshalb für unseren Jahrgang heute die letzte Unterrichtsstunde entfällt. Jetzt wird der Direktor uns also erklären, was aus unserem Abschluss wird. Angespannt rücke ich meine Uniform zurecht. Wir müssen eine Chance bekommen, an die Serenity zurückzukehren. Ich habe doch nicht jahrelang mein Bestes gegeben, nur um am Ende nach der zehnten Klasse von der Schule abzugehen! Ich schiebe mich hinter Fiona durch den überfüllten Flur, dann biegen wir ab und laufen hastig die Treppenstufen in den zweiten Stock hinauf. Auf einmal wird Fiona langsamer. Sie wirft mir einen besorgten Blick zu, und als ich zum Ende des Flurs sehe, weiß ich auch, warum. Vor uns stolziert Jasmine, gefolgt von Kelly und Zahra, durch die Tür der Aula. Früher hätten sie auf mich gewartet, aber jetzt würdigen sie mich keines Blickes. Doch seltsamerweise macht es mich

Скачать книгу