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      »Komm, wir wollen doch nicht den Anfang verpassen«, sage ich und gehe, ohne zu zögern, auf die Holztür der Aula zu. Ob Elias schon da ist? Ich werfe Fiona einen ungeduldigen Blick zu, die einem Jungen den Vortritt lässt, bevor sie selbst durch die wuchtige Holztür tritt. Wenn ich ihm erst einmal alles erklärt habe, schwöre ich mir in diesem Moment, werde ich ihm auch von Jasmines miesem Verhalten erzählen. Vielleicht sieht er dann endlich, dass ich über all die Jahre seine einzige echte Freundin gewesen bin. Die Einzige …

      Fiona winkt mir von einem Platz in der vorletzten Reihe aus zu. Gedankenversunken bin ich mitten in der Tür stehen geblieben. »Skye? Hier drüben.«

      Ich gehe durch den Mittelgang. Auf der Bühne steht unser Direktor schon am Rednerpult, doch es ist nicht sein tadelnder Blick, der mich mit einem Mal mitten in der Bewegung einfrieren lässt. Nur ein paar Schritte von mir entfernt haben sich Jasmines sorgfältig manikürte Finger mit denen eines großen dunkelhaarigen Jungen verschränkt. Halt suchend greife ich nach der Lehne eines Stuhls vor mir. Das kann nicht wahr sein! Der Junge neigt sich zu Jasmine, um ihre gewisperten Worte besser zu verstehen, und ich erkenne dieselben grauen Augen, in denen sich gestern Nacht das Mondlicht gespiegelt hat.

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      Ich bemerke das Ende der Versammlung erst, als Fiona sich vorsichtig räuspert. Um mich herum sind die anderen Expektanten, wie wir ab jetzt bis zu unserer Kristallisierung genannt werden, längst aufgestanden.

      »Entschuldigung«, murmele ich und recke den Hals, um Elias in der Menge nicht zu verlieren. Sieh mich an! Ich konnte mich auf keines der Worte des Direktors über die regulär stattfindende Zeugnisverleihung im Juli konzentrieren, und der Gedanke, dass unser Jahrgang nach der Testung an die Serenity zurückkehren wird, beruhigt mich lange nicht so sehr, wie er sollte. Aber anstatt zu fragen, warum niemand uns erklären kann, weshalb unsere Testung vorverlegt wird, habe ich eine Stunde lang Löcher in Elias’ Hinterkopf gestarrt und an seine Hand in Jasmines gedacht. Es muss irgendein grausames Missverständnis sein. Eine andere Erklärung will ich nicht zulassen.

      Um mich herum strömen die anderen Expektanten zielstrebig zu den Ausgängen, und ich fühle mich, als würde ich einer fremden Spezies angehören, die nichts zwischen den anderen Schülern verloren hat. Normalerweise genügt ein Lächeln von Elias, eine zufällige Berührung, und ich weiß, dass er mich versteht. Aber jetzt muss ich zusehen, wie er seine Hand um Jasmines Taille legt, während sie nebeneinander durch die Menge zum Ausgang gehen, und etwas in mir erstarrt, als hätte jemand einen Eimer Eiswasser über mein Herz geschüttet.

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      Wir sollten uns beeilen, wenn wir den Bus noch erwischen wollen«, sagt Fiona wenig später und räumt den Inhalt ihres Spindes eifrig in ihre Tasche.

      Ich hingegen lehne apathisch an der Wand. Wie oft habe ich mich darüber geärgert, dass mein Spind in einem anderen Korridor liegt als der von Elias. Heute bin ich dankbar für diese Fügung, denn er ist der letzte Mensch, den ich im Moment sehen will. Vielleicht ist ja gar nichts zwischen ihnen passiert. Ein Teil von mir klammert sich an diese Hoffnung, aber trotz allem hat Elias mich gedemütigt. Egal, was gestern Nacht zwischen uns geschehen oder wohl eher nicht geschehen ist – wir sind immerhin beste Freunde. Und beste Freunde rächen ihr verletztes Ego nicht mit den Erzfeinden des anderen.

      Ich stelle meine Zahlenkombination ein, doch das Schloss meines Spindes öffnet sich nicht. Entnervt rüttle ich an der klemmenden Metalltür.

      »Probleme?« Colin lehnt sich an den Spind neben meinem, ausgerechnet Colin. Er stemmt sich ungefragt gegen die Tür und öffnet die widerspenstige Verriegelung ohne Aufwand. »Kein Grund zur Dankbarkeit.« Colins gewohntes, überhebliches Grinsen ist zurück, als hätte er nicht vor weniger als vierundzwanzig Stunden halbtot in meinen Armen gelegen. Im Gegensatz zu mir kann er verdammt gut schauspielern.

      Während Fiona damit beschäftigt ist, den Reißverschluss ihrer vollgestopften Tasche zu schließen, ziehe ich Colin hinter die Tür meines Spinds.

      »Ich werde dafür sorgen, dass mein Vater die Ermittlungen einstellt«, flüstere ich. Niemand darf diesen Fall mit uns in Verbindung bringen. Nicht, wenn wir mit einem R aus dem Zentrum zurückkehren wollen.

      Colin wirft einen raschen Blick über seine Schulter. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.« Der drohende Unterton seiner Stimme ist zurück. Er dreht sich um und wäre fast auf einem rechteckigen Stück Pappe ausgerutscht. Er bückt sich. »Das muss aus deinem Spind gefallen sein.« Einen Moment lang berühren sich unsere Hände. »Dann sehen wir uns am Zug.« Nach einem Blick auf seine Armbanduhr fügt er hinzu: »In ziemlich genau dreizehn Stunden. Fiona.« Mit einem Nicken in unsere Richtung dreht Colin sich um und geht davon, als würden wir morgen in einen Sommerurlaub auf brechen.

      Ich nehme meine Tasche aus dem Spind und will das heruntergefallene Papier gerade in den Mülleimer werfen, als ich bemerke, dass es ein Polaroidfoto ist. Ich stocke. Solche Bilder habe ich zuletzt vor vier Jahren gesehen, als ich die Sachen meiner Mutter aus dem Müll gerettet habe. Ich betrachte das Foto und hätte es beinahe fallen gelassen.

      »Ist alles okay?« Fionas besorgtes Gesicht erscheint hinter der Spindtür und ich presse das Polaroidfoto reflexartig an meine Brust.

      »Ja. Lass uns gehen.«

      Hastig räume ich meinen Spind aus und folge ihr die Treppen hinunter zum Ausgang. Als niemand hinsieht, riskiere ich einen zweiten Blick, aber meine Augen haben sich nicht getäuscht. Noch einmal sehe ich dabei zu, wie Elias Jasmine küsst, die Hand an ihrer Wange. Genau, wie er mich gestern Nacht gehalten hat.

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      Die U-Bahn wäre eine gute Möglichkeit, den Blicken der anderen aus dem Weg zu gehen, aber nach dem seltsamen Erlebnis von gestern steht mir nicht gerade der Sinn nach einem erneuten Ausflug in die New Yorker Unterwelt. Stattdessen gebe ich vor, etwas in der Schule vergessen zu haben, während die anderen in den Bus steigen. Endlich allein, lasse ich mich auf einen der Metallgittersitze an der Haltestelle sinken und starre auf das Foto. Auf seine Finger in ihren Haaren, auf ihre Lippen, die mit seinen verschmelzen. Es interessiert mich nicht, wie das Polaroid in meinen Spind gelangt ist und wer mich offensichtlich genauso sehr verletzen will wie Elias selbst.

      Als der letzte Schulbus vor mir hält, steige ich ein und lasse mich auf einen Fensterplatz fallen. Ich setze meine Kopfhörer auf, ignoriere die Lautstärkewarnung und lasse die Musik meine Gedanken betäuben, während draußen die Hochhäuser Manhattans an mir vorbeiziehen. Ich mag die Wolkenkratzer meiner Heimat, in denen niemals jemand stillzustehen scheint. Die vier symmetrischen Türme der Administration erstrecken sich hinter der schmutzigen Fensterscheibe des Busses ebenso wie das Spiegelkarree, dessen Bildschirme noch bis zum Beginn der Sperrstunde in die Nacht scheinen werden. Ich denke an das New Yorker Athene-Zentrum, das in den nächsten vier Wochen mein Zuhause ersetzen wird. Die Zentren sollen an Modernität nicht zu übertreffen sein, habe ich gehört. Wenn dort nicht gerade Testungen stattfinden, werden sie genutzt, um die neueste Technologie zu entwickeln und Dinge Wirklichkeit werden zu lassen, die vor Kurzem noch der Stoff von Filmen waren. Und ich bin eine der Ersten, die an diesem Ort kristallisiert wird. Ich, Fiona, Colin, Jasmine – und natürlich Elias, der in diesem Moment ganz sicher keinen einzigen Gedanken an mich verschwendet.

      Die Ansagestimme verkündet meine Ankunft in Upperlake. Draußen atme ich den schweren Fliederduft ein und lasse meinen Blick über die akribisch gepflegten Vorgärten schweifen, über die Elias und ich uns immer lustig gemacht haben. Wer werde ich sein, wenn ich sie das nächste Mal sehe?

      Vor den Stufen unserer Veranda bleibe ich stehen, unfähig, zum letzten Mal hineinzugehen.

      »Skye?«

      Elias’ Mutter setzt die Gießkanne ab und winkt mich in ihren wild wuchernden Garten herüber, in dem überall Wasserschalen

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