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Gebüsch, das die alten Wege überwuchert. Der Wald, der den See umgibt, ist mit den Jahren dichter geworden und ich muss meine Strickjacke immer wieder von einer widerhakenden Ranke lösen.

      Nach ein paar Schritten stehe ich vor einem mächtigen Baumstamm. Er liegt quer über dem Weg, der mal zum Steilufer geführt hat. Ich streiche über das morsche Holz und atme den moorigen Geruch ein, den der See verströmt. Mit geübten Bewegungen klettere ich auf den Stamm. Während ich den klaren Himmel durch die Baumwipfel über mir betrachte, spüre ich, wie die Enge in meiner Brust verschwindet, je weiter mein Blick über die vertraute Umgebung wandert. Es gibt nichts, wovor ich mich fürchten müsste. Zumindest nicht hier.

      Ich höre dem Rauschen des Flusses zu, der ganz in der Nähe in den See fließt und dem Gewässer seine tückische Strömung verleiht. Vielleicht ist es ja sogar gut, nicht mehr zwei ganze Sommer lang warten zu müssen, bis sich das Geheimnis der Testung endlich lüftet. Es ist wie mit einem Pflaster: Man kann es langsam und qualvoll abziehen oder es so schnell abreißen, dass man den Schmerz kaum spürt.

      Ein knackender Zweig lässt mich vor Schreck beinahe vom Baumstamm fallen. Für einen Moment ist alles still, doch dann höre ich etwas näher kommen. Oder jemanden?

      »Elias?«

      Keine Antwort. Es hätte mich auch gewundert, denn die hastigen Bewegungen klingen nach Kopflosigkeit, nicht nach der Vorsicht, mit der Elias sich früher hier bewegt hat – schon mit elf Jahren darauf bedacht, nicht in einer gesperrten Zone erwischt zu werden. Ich lasse mich leise auf der anderen Seite des Baumstamms hinabgleiten und schleiche geduckt in das Dickicht der Bäume. Wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem ich gerade noch gesessen habe, läuft jemand vorbei, ohne sich umzuschauen. Verwirrt starre ich dem Schatten hinterher. Wer sich auskennt, umrundet den See rechts herum, in der Sicherheit des Waldes, und gelangt nach einem Marsch von zehn Minuten zu den sanften Buchten, in denen man bedenkenlos schwimmen kann. Ich kneife die Augen zusammen. Die Schneise, die mein Vorgänger durch den Wildwuchs geschlagen hat, führt nach links. Damit steuert der Unbekannte geradewegs auf das Steilufer zu!

      »Hallo?«

      Unsicher lausche ich in die Dunkelheit. Die Bäume verdecken die meterhohen Klippen. Ein falscher Schritt genügt … Ich sollte zurück zum Baumstamm gehen und auf Elias warten. Wer weiß, ob jemand, der nachts durch eine gesperrte Zone sprintet, nicht gefährlich ist. Ich habe mich schon umgedreht, als ein dumpfer Aufprall ertönt. Es folgt ein erstickter Schrei, der meine Sinne gesammelt Alarm schlagen lässt. Wer auch immer sich da draußen herumtreibt, er ist in Gefahr!

      So schnell ich kann, renne ich zwischen den Bäumen hindurch und gelange innerhalb von wenigen Minuten zum Ufer. Anders als in unserer kleinen Bucht neigt es sich hier steil hinunter zum See, dessen Strömungen Elias und ich an dieser Stelle aus gutem Grund immer gemieden haben. Ich bleibe stehen und klammere mich gerade noch rechtzeitig an einem Ast fest, um nicht den Halt zu verlieren. Der Vollmond wirft seinen Schein auf die Schwärze unter mir. Ein paar losgetretene Steine rollen dumpf den Abhang hinunter. Und da höre ich es. Ein Keuchen, dann schlagende Geräusche, als würde sich jemand mit rudernden Armen verzweifelt über Wasser halten. Mit angehaltenem Atem erkenne ich eine Gestalt. Sie wird vom Sog des durch den See führenden Flusses hinausgetrieben, dahin, wo der Staudamm das offene Wasser in eine Todesfalle für ungeübte Schwimmer verwandelt. Ein paar Sekunden lang lähmt mich der Anblick des immer wieder untergehenden Körpers. Rentnerin im Upperlake-See ertrunken: Naturparadies wegen tödlicher Strömung zur Sperrzone erklärt. Das war die Schlagzeile, nach der niemand je wieder einen Fuß in das Gebiet des Sees gesetzt hat. Niemand außer Elias und mir. Zumindest bis heute.

      Die Spitzen meiner Sandalen ragen über den Abgrund. Ich sollte Hilfe holen, aber die Bewegungen des Menschen da draußen werden immer schwächer. Bevor ich es mir anders überlegen kann, springe ich in die Tiefe.

      Das kühle Wasser des Sees umfängt meinen Körper. Für einen kurzen Moment verliere ich die Orientierung, aber als meine Finger den sandigen Boden berühren, stoße ich mich mit aller Kraft nach oben ab. Augenblicke später durchbreche ich die Wasseroberfläche und schnappe nach Luft. Wo ist er? Ich recke den Hals, während die Strömung mich in die Richtung ihres ersten Opfers treibt. Da! In einiger Entfernung sehe ich seine Arme. Meine Strickjacke hat sich mit Wasser vollgesogen und zieht mich nach unten. Ich habe nicht daran gedacht, sie auszuziehen.

      Ich habe überhaupt nicht nachgedacht.

      Halt durch, flehe ich den Ertrinkenden innerlich an, während ich verbissen gegen die Strömung ankämpfe, die mich zum Staudamm zieht. Doch die rudernden Arme werden immer weiter von mir fortgetrieben und Panik schnürt meine Kehle zu. Wenn ich denjenigen, der da draußen um sein Leben ringt, noch rechtzeitig erreichen will, muss ich mich mitreißen lassen. Das bedrohliche Rauschen des Staudamms in meinen Ohren, beginne ich, mit der Strömung zu schwimmen. Ein Kopf taucht vor mir auf, blonde Haare glänzen im Mondlicht, aber der Junge hat aufgehört zu kämpfen. Energisch stoße ich mich vorwärts und gelange schließlich auf seine Höhe. Ich bekomme seinen Arm zu fassen und ziehe den bewegungslosen Körper mit aller Kraft zu mir heran. Panisch versuche ich, zu Atem zu kommen, während der Fluss uns immer schneller mit sich forttreibt. Wir müssen aus der Strömung heraus! Ich schlucke Wasser, während ich den Jungen um den Bauch fasse und seinen Kopf auf meine Schulter lege. Der Blonde ist schlank, doch sein Gewicht ist zu viel für mich. Wir beginnen zu sinken, aber ich weigere mich aufzugeben, obwohl ich das Gefühl in meinen Beinen schon lange verloren habe. Das ist nur ein weiterer Wettkampf, rede ich mir ein.

      Wenn Elias doch nur hier wäre!

      Verzweifelt versuche ich, mich an die Rettungsgriffe des Schwimmteams zu erinnern. Ich bringe uns beide mühsam in Rückenlage und halte den Kopf des Blonden mit einer Hand. So kräftig es geht, stoße ich uns mit den Beinen Richtung Ufer. Ich schaffe es, nicht weiter abgetrieben zu werden. Langsam, entsetzlich langsam strample ich uns aus dem Sog heraus. Minuten dehnen sich zu Stunden, als ich endlich eine der Baumwurzeln zu fassen bekomme, die vom Ufer aus in den See ragen. Ich setze meine Füße auf festen Grund und versuche keuchend, meinen Atem zu beruhigen, während ich meine Last an Land ziehe. Wenigstens wurden wir weit genug abgetrieben, um am flachen Ufer zu landen. Doch meine Erleichterung darüber verschwindet, als ich in das kalkweiße Gesicht unter mir im Sand blicke.

      »Colin!«, flüstere ich und schlage ihm gegen die eiskalten Wangen, während ein erneuter Strudel droht, mir den Boden unter den Füßen wegzureißen. Nur langsam beginne ich zu begreifen, wen ich gerade aus dem verbotenen See gefischt habe. »Verdammt, Colin!«

      Elias’ bester Freund trägt noch immer den hellblauen Pullover der Serenity-Schuluniform. Ich denke an gestern Abend, als ich ihn von meinem Fenster aus beobachtet habe. Den arroganten Colin, den Goldjungen unserer Schule, den ich noch nie leiden konnte. Zitternd vor Anstrengung, reiße ich den Stoff seines engen Pullovers am Kragen auf und ziehe ihn ihm über den Kopf. Dann lege ich meine Hände auf seine Brust und drücke ruckartig zu. Einmal, zweimal.

      »Komm schon«, flüstere ich, doch Colin rührt sich nicht.

      Eine ungekannte Art von Angst steigt in mir hoch, schlimmer als alles andere, was ich jemals empfunden habe. Colin könnte sterben. Er könnte tot sein, weil ich nicht gut genug war, um ihn zu retten. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss es schaffen. Ich muss! Ich lege meine Hand unter sein Kinn und beuge mich über ihn, um ihn zu beatmen. Da spüre ich mit einem Mal, wie die Kontrolle zurück in seinen Körper fährt. Hustend übergibt er das Wasser, das er geschluckt hat, während ich seinen Kopf hastig zur Seite drehe.

      »Es ist okay, alles ist gut«, höre ich mich stottern und weiß nicht, ob ich ihn oder mich selbst meine.

      Colins Finger krallen sich in meine Schultern, als würde er noch immer sinken, und ich bin nicht herzlos genug, um mich zu befreien. Langsam begreift sein Körper, dass Luft in seine Lungen strömt, und Colin lässt mich los. Sein Brustkorb hebt und senkt sich in kurzen Abständen, während er allmählich zu sich kommt.

      »Der Bescheid.« Colins Stimme ist kaum hörbar, doch ich lese die Worte von seinen farblosen Lippen.

      Plötzlich steigt eine schreckliche Vorstellung in mir auf. Hat Colin sich absichtlich in den See gestürzt?

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