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und hielt noch eine ganze Weile das stumme Telefon in der Hand.

      ***

      Um 20:50 Uhr goss sich Rebecca ein kleines Glas Weißwein ein und ließ sich in den Fernsehsessel aus Wildlederimitat sinken. Ein leises Stöhnen kam ihr über die Lippen, als der Stress des Tages sich langsam von ihr löste.

      Die Kinder waren im Bett. Ella schlief vermutlich schon und träumte von Feen und Blumen. Colton spielte noch Jade Empire auf seiner Xbox 360. Sie hatte ihm bis einundzwanzig Uhr erlaubt zu spielen, dann sollte er das Licht ausmachen. Natürlich würde sie ihn noch mehrmals daran erinnern müssen. Das gehörte dazu, wenn man eine Mutter war. Sie wusste noch, wie sie selbst immer mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen hatte, als sie in Coltons Alter gewesen war.

      Bei der Erinnerung daran huschte ihr ein Lächeln über das Gesicht.

      Sie begann ihr allabendliches Ritual und dachte dabei an ihren bevorstehenden Urlaub. Zuerst machte sie den Fernseher an, damit es nicht so still war. Es war tröstlich, andere Stimmen um sich herum zu haben. Manchmal hörte sie auch Musik – irgendetwas, damit sie nicht zuhören musste, wie das Haus atmete und knackte und ächzte. Sie machte in der Küche und im Badezimmer Licht und knipste dann noch die Lampe neben ihrem Sessel an. Dunkle Ecken mochte sie nicht, auch nicht, in ein stockfinsteres Zimmer zu gehen. Man konnte schließlich nie wissen, was im Dunkeln auf einen lauerte.

      Oder im Nebel.

      2007 hatte ein Serientäter, der Kinder entführte, die Stadt terrorisiert. Weil er immer an nebligen Abenden zuschlug, hatten die Medien ihm schnell den Spitznamen »Der Nebel« verpasst. Sie hatte geweint, als sie von den Leichen der im Wald gefundenen Kinder gehört hatte.

      Der Nebel trieb jetzt nicht mehr sein Unwesen, aber ihr lief trotzdem ein Schauder über den Rücken, als sie an die offene Garagentür dachte. Denk nicht mehr dran, du alberne Gans.

      Abends fiel es ihr immer besonders schwer, nicht an ihr Leben mit Wesley zu denken. Mit ihm hatte sie sich im Haus immerhin sicher gefühlt.

      Ach ja, Rebecca? Sicher? Wirklich?

      Das Alleinsein war eins der schwierigsten Dinge, an die sie sich gewöhnen musste, seit Wesley ausgezogen war. Es fiel ihr wirklich nicht leicht. Früher war darauf Verlass gewesen, dass er zu Hause war. Zumindest an den meisten Abenden.

      Sie nippte an ihrem Wein und klickte sich durch die Fernsehkanäle. Eine Episode von Law & Order lief. Eine Frau wurde nach dem verdächtigen Tod ihres Mannes verhört. Rebecca fragte sich, ob der Mann seine Frau vielleicht zu der Tat getrieben hatte. Ob er seine Frau auch so misshandelt hat wie Wesley mich?

      Misshandlung. Ein unschönes Thema. Selbst heutzutage war es etwas, das geheim gehalten wurde und über das niemand reden wollte. Bevor sie Wesley kennengelernt hatte, hatte sie immer gedacht, dass Frauen, die es sich schweigend gefallen ließen, einfach nur schwach waren. Nun wusste sie es besser. Sie wurden nicht durch Schwäche davon abgehalten, sich jemandem anzuvertrauen, sondern durch Angst. Besonders, wenn sie Kinder hatten.

      Sie war nur wegen der Kinder mit Wesley zusammengeblieben – zu Anfang zumindest. Bis ihr Vater ihr die Illusionen über das Leben genommen hatte, das sie sich selbst vorgespielt hatte. Denn es war alles nur gespielt gewesen.

      »Du bist zu clever, um dumme Entscheidungen zu treffen«, hatte er zu ihr gesagt, als er nach seiner Herzoperation wieder nach Hause gekommen war.

      »Was für dumme Entscheidungen?«, fragte sie.

      »Das Ganze aussitzen zu wollen.«

      Sie fragte nicht, was er damit meinte.

      »Du hast ihn nie gemocht, oder, Dad?«

      »Nein, das habe ich nicht.«

      »Warum?«

      »Weil ich es in seinen Augen sehen konnte.«

      »Was sehen?«

      Ihr Vater wandte sich ab. »Denselben Blick, den ich früher auch hatte. Eine allumfassende Wut, die alles in ihrem Weg liegende zerstört.«

      Sein Geständnis verschlug ihr den Atem. Sie hatte ihn nie so gekannt, wie er sich jetzt darstellte. Ihr Vater war immer lustig und stolz gewesen. Meist wirkte er glücklich, obwohl sie natürlich wusste, dass er und ihre Mutter sich manchmal auch gestritten hatten. Welches Pärchen tut das nicht?

      »Aber du hast Mom nie geschlagen«, sagte sie.

      »Nein … aber ein paar Mal war ich nahe dran.«

      »Und darum habt ihr euch scheiden lassen?«

      Ihr Vater tätschelte ihr die Hand. »Das war einer der Gründe für die Scheidung. Honey, es ist nicht einfach, an der Seite einer starken Frau wie deiner Mutter durch das Leben zu gehen. Sie hat ihre eigenen Vorstellungen, was sie aus ihrem Leben machen will, und ich hatte meine eigenen.«

      »Und das waren nicht die gleichen«, schätzte sie.

      Er nickte. »Ich war damit beschäftigt, meiner Wege zu gehen, und deine Mutter ist einfach ihrem eigenen Weg gefolgt. Irgendwann haben wir angefangen, uns auseinanderzuentwickeln, und unsere Wege haben sich nicht mehr gekreuzt. Und manche Menschen wiederum liegen genau auf Kollisionskurs. Dann kommt es unweigerlich zu einem Desaster.«

      Zwei Monate später hatte ihr Vater einen tödlichen Herzanfall erlitten. Aber seine Worte hatte sie niemals vergessen. Manche Menschen liegen genau auf Kollisionskurs. Dann kommt es zu einem Desaster.

      Als sie an diesem Abend ihren Wein trank, grübelte Rebecca über ihren eigenen Lebensweg nach. Sie hatte keine Ahnung, wohin er führte, und das machte ihr ehrlich gesagt Angst. Inzwischen hatte sie sich so weit von Wesley getrennt, dass sie hoffte, sie würden jeder ihren eigenen Weg gehen können. Sie befürchtete allerdings, dass die Kollision, wenn sich ihre Lebenswege wieder kreuzen sollten, sie erneut in ständiger Angst versinken lassen würde. Das konnte sie nicht noch einmal aushalten. Nicht, seit sie endlich gelernt hatte, Luft zu holen.

      Irgendwo im Haus klirrte plötzlich etwas.

      Sie stellte das Weinglas hin, ging hastig durch das Zimmer, und lauschte, wie das Holzhaus arbeitete. Von der Tür zur Garage kam ein leises Kratzen. Verdammte Mäuse!

      Sie machte die Tür auf und knipste das Licht an. Aber nichts bewegte sich. Keine kleinen Mäusepfoten raschelten. Morgen musste sie unbedingt daran denken, Mausefallen zu kaufen. Der Gedanke an die kleinen leblosen Körper darin gefiel ihr zwar nicht, aber es ließ sich nicht ändern. Wenn sie sie nicht tötete, würden sie überall hinmachen und die Mülltüten aufreißen. Und sich außerdem wie Gremlins vermehren.

      Sie machte die Tür wieder zu und schloss ab, dann kehrte sie zum Sessel und ihrem Wein zurück. Sie trank noch ein Glas und entdeckte, dass auf Movie Central einer ihrer Lieblingsfilme lief: Der Feind in meinem Bett.

       Julia Roberts spielte eine Frau, die auf geniale Weise vor ihrem gewalttätigen Mann flüchtet und unter einem anderen Namen ein komplett neues Leben beginnt.

      Rebecca verstand sie nur zu gut. Wie oft wünschte sie sich, ein neues Leben beginnen zu können.

      Aber das habe ich im Grunde ja.

      Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Klarheit gewann sie darüber, dass sie sich nicht groß von der Frau im Film unterschied. Sie stand vor einem Neuanfang, und das bedeutete, dass alles möglich war. Sogar, sich wieder zu verlieben.

      Sie fuhr mit dem Finger über den Rand des Weinglases. Wie es sich wohl anfühlen würde, von einem anderen Mann berührt und zärtlich geküsst zu werden? Mit ihm ins Bett zu gehen? Sie hatte schon so lange nicht mehr mit jemandem geschlafen, dass sie sich fragte, ob sie überhaupt noch wusste, wie es ging.

      Unwillkürlich musste sie lachen und legte sich schnell die Hand über den Mund. Sie konnte sich nur all zu gut vorstellen, was Kelly dazu sagen würde: »Das ist wie Fahrradfahren. Man verlernt es nie.«

      Ihre Schwester war ihr in den letzten turbulenten Monaten ein wahrer Rettungsanker gewesen. Kelly war immer für sie da gewesen, selbst wenn Rebecca

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