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war wohl das einzige, aber da gehörten noch andere Fächer dazu, wenigstens eins. Welches aber? Sie hätte es also wahrscheinlich gelassen, auch wenn ihre Eltern noch am Leben wären. Und so schon gar nicht. Aber sie besaß ein unmittelbares Interesse an diesem Gebiet. Ob das auf Marcell zurückzuführen war, oder wenigstens zum Teil, wußte sie nicht.

      Marcell hatte eine merkwürdige Vergangenheit, wie sie durch Zufall einmal erfahren hatte. Seine Eltern, beide ausübende Mediziner, waren mit dem Auto verunglückt, als er noch nicht zehn Jahre alt war. Bis dahin hatten sie ihn unvernünftig verwöhnt und vergöttert, mit Liebe überschüttet, wenn sie Zeit für ihn hatten, und nicht unter andere Kinder gesteckt. Da keine Verwandten ihn zu sich nahmen, zog der Chauffeur ihn auf. Der hatte den Unfall als einziger überlebt, ihn traf keine Schuld, wie die Verhandlung ergab, aber er schien sich schuldig zu fühlen. Mit dem Jungen seiner „Herrschaft“ gab sich dieser nicht mehr junge, aber lebenskluge Mann unendliche Mühe. Er verfiel aber ins Gegenteil und erzog das Muttersöhnchen, das bis dahin früh sogar noch die Flasche getrunken hatte, vorsätzlich hart und zur Härte. Er machte aus dem kleinen Prinzen einen wehrhaften Gassenbuben, der unter seinesgleichen seinen Mann stand und in der Schule bald zum Überflieger wurde. Im Abitur konnte er sieben Einsen vorweisen, ein sicher außergewöhnlicher Fall. Daraufhin erhielt er die Studienstiftung des deutschen Volkes, die jedes Jahr nur einmal verliehen wird, und studierte damit Kunstgeschichte, wurde im Austausch nach Amerika geschickt, machte selbst viele Reisen und saß jetzt an der Doktorarbeit. Binnen kurzem würde ihn der Doktorhut schmücken – „Dr. Marcellus Marcus“– und in absehbarer Zeit war er dann Professor. Imponierend ohne Zweifel, großartig in seiner Zielstrebigkeit.

      Petra hatte den Abwasch beendet, blieb vor dem kleinen Küchenspiegel stehen und überlegte, was sie heute abend anziehen sollte. Den Pullover mit dem dicken Rollkragen? Er stand ihr gut und paßte auch zum augenblicklichen Wetter. Petra stand und sah sich an. Ihr Gesicht ähnelte dem von Pytt, wirkte aber zur Zeit älter als sie war. Es hatte in letzter Zeit gar zu viel Sorgen, Ärger und Arbeit gegeben. Petras Augen waren hellbraun mit einem grünlichen Schimmer – sie konnten golden aussehen, hatte Marcell einmal gesagt. Goldene Augen ...

      Nein, sie zog lieber das helle Wollkleid an. Warum immer Pulli und Rock oder gar lange Hose. Marcell mochte Hosenmädchen nicht, sie wußte das. Und im Grunde war sie auch keins, trug Hosen nur aus praktischen Gründen. Hosen paßten zu solchen Mädchen wie Pytt – munter und quicklebendig. Die sich den Führerschein erarbeiteten, moderne Kleider kauften, auf Draht waren. Und sie? War sie nicht auf Draht?

      „Petra!“ rief es in diesem Augenblick. Das war Irmgards Stimme. Petra brach ihren Gedankengang nur zu gern ab. Es hatte kläglich geklungen, sicher war Hilfe nötig. Sie lief in ihr Zimmer.

      Wahrhaftig. Irmgard pflegte sich zum Arbeiten sehr starken Kaffee zu kochen, und da sie viel davon brauchte, hatte sie sich Petras Wärmekanne ausgeliehen, ein Gefäß, das, nach dem Prinzip der Thermosflasche hergestellt, doppelwandig war und somit die Wärme lange hielt. Diese Kanne besaß die Eigenschaft, daß ihr Stöpsel, wenn man den Kaffee sehr heiß einfüllte, nach einer Weile mit einem „Flupp!“ hochsprang. Diesen „Flupp“ hatte es eben gegeben, und Irmgard war erschrocken, hatte die nun offene Kanne angestoßen, diese war umgefallen, und nun schwamm der ganze Arbeitstisch von starkem Kaffee.

      „Himmel, warte – ich komme schon –“ Petra rannte nach einem Lappen, während Irmgard planlos an einzelnen Blättern herumtrocknete, laut schimpfend.

      „Muß mir das passieren – meine ganze Lehrprobe! Nun muß ich alles nochmal von vorn machen –“ sie war den Tränen nahe. Petra tröstete und versuchte zu retten, was zu retten war.

      „Nein, abgetrocknete Kaffeeblätter kann ich nicht abgeben!“ jammerte Irmgard. „Das muß ich alles neu abtippen, möchte nur wissen, wann! Ausgerechnet heute muß mir das passieren, wo ich sowieso schon so im Druck sitze!“

      Irmgard hatte erst Philologie studiert, was ihr aber weniger lag, als sie gedacht hatte. So ging sie zur Pädagogischen Hochschule über, um schneller fertig und Lehrerin zu werden. Da es hier keine PH gab, fuhr sie täglich nach Gießen. Trotzdem behielt sie ihr Zimmer bei. Sie konnte sich nicht trennen.

      Sie und Petra waren in eine Klasse gegangen. Sie verstanden sich gut, waren so etwas wie Freundinnen, jedenfalls gute Kameraden. Irmgard war klein, lebhaft und dunkel. Natürlich spielte auch der Preis des Zimmers eine ausschlaggebende Rolle. Sie bewohnte die sogenannte Besenkammer, einen winzigen Raum, der eigentlich keine Stube und auch nicht heizbar war. Deshalb arbeitete sie meist in Petras Zimmer.

      Auch heute.

      „Sowas kommt halt vor“, tröstete Petra, wischte und sortierte. „Erstmal müssen wir die Blätter der Reihe nach legen, du hast alles durcheinandergeworfen. Alles andere findet sich. Natürlich, abgeben kann man sie nicht – war es die Reinschrift?“

      „Ja, das ist es doch gerade!“

      „Laß mal, lesen kann man es schon noch. Und wenn du keine Zeit hast, es nochmal zu tippen, dann diktierst du es mir. Ich schreibe sehr schnell und so gut wie fehlerfrei – darf man radieren?“ fragte Petra.

      „Klar! So ist es nun wieder nicht.“ Irmgard mußte lachen, es war noch ein halber Schluchzer. „Übrigens heul’ich nur aus Wut, daß du es weißt! Aus Wut über meine eigene, nicht abzulegende Schusseligkeit ...“

      Sie heulte bald nicht mehr. Petra, die eigentlich eine Mittagspause hatte einlegen wollen, fand, daß man, wenn man schon half, auch sofort helfen müsse. Sie setzte sich also an die Maschine, und Irmgard saß daneben. Irmgard fing an zu diktieren, und bereits nach einer halben Stunde unterbrach sie sich, völlig getröstet:

      „Du, auf diese Weise kann ich noch viel ausputzen. Oft denkt man ja, es ist alles in Ordnung, und dabei wäre noch so viel einzufügen. Fußnoten mach’ ich gar nicht gern, die sehen so schlampig aus –.“

      Sie versank wieder in ihr kaffeebraunes Manuskript. Petra saß, wartete auf das Diktieren und starrte auf die Tasten. Sie war jetzt sehr müde. Sobald Irmgard einen Satz sagte, war sie hellwach, dazwischen aber schlief sie mit offenen Augen. Wenn man so zeitig aufstand wie sie, merkte man eine übergangene Mittagspause sehr genau. Immer wieder mußte sie sich gewaltsam emporreißen. Endlich sagte Irmgard:

      „Das wär’s. Tausend, tausend Dank! Nun ist die Lehrprobe besser als vorher. Es geht doch nichts über umgeschütteten Kaffee.“

      Petra lachte und ging. Vielleicht konnte sie sich jetzt noch geschwind eine kleine Zeit hinlegen? Es war so verlockend, wenn sie sich vorstellte: ganz kurz schlafen, dann unter die heiße Brause, ein hübsches Kleid anziehen und dann der Abend mit Marcell.

      „Mit Marcells Griechenland-Dias“, verbesserte sie sich rasch in Gedanken. Natürlich, um die Dias ging es ihr. Aber Marcell war auch nett, und erzählen konnte er wirklich interessant. Goldene Augen, hatte er gesagt ...

      Das abnorme Schneewetter machte sich wahrhaftig bemerkbar. Heute fürchtete jeder, den Schnee bis oben in die Stiefel zu bekommen. Einer nach dem andern von Petras Schutzbefohlenen fand sich nach dem Abendbrot im Wohnzimmer ein, bald mußte man Stühle aus den andern Zimmern und aus der Küche holen, und die Jungen rauchten, daß man schon gar nicht mehr hindurchgucken konnte.

      „Im Kino wird nicht geraucht“, protestierte Petra, „wir sind nicht in England.“ Ihr Bruder Helmut hatte einmal erzählt, wie er sich geärgert hatte, als er in London den Film „Romeo und Julia“ in hervorragender Besetzung ansah und bei der süßen Szene ‚– bist du schon wach? Der Tag ist ja noch fern, es war die Nachtigall und nicht die Lerche –‘ eine alte dicke Lady vor ihm sich eine Brasil anzündete.

      „Nicht nur mit einem lauten ‚Ratsch!‘ anzündete, sondern später den Rest auch noch auf dem teppichbelegten Fußboden austrat!“ hatte er gesagt.

      „Es hat ja noch nicht angefangen“, sagte Frieder gemütlich, „Marcell ist höchstwahrscheinlich im Schnee steckengeblieben.“ Petra hatte auch schon ähnliches befürchtet, da aber ging die Tür, und der Erwartete trat ein, dick beschneit, von allen Anwesenden mit Lachen und nach Studentenart mit Klopfen und Füßetrampeln begrüßt.

      „Natürlich

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