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So bin auch ich einmal erschrocken. Bis ich Viktoria sah. Die Schulreiterin Viktoria. Arme, arme Viktoria!“

      Der alternde Mann wechselt die Farbe. „Unvergesslich bleibt mir, wie sie in himmelblauer Seide, das blonde Haar im Nacken, auf den Ball der Oxforder Studenten ging. Sie war ja nun schon die Gattin meines Bruders, eines Viscount Marshall. Aber das Zirkusblut schwieg nicht. Mein Bruder liebte sie, wie man nur eine Frau mit solchen Gaben lieben kann. Sie war keine Zirkusreiterin. Sie war die letzte Amazone unserer Zeit. Sie war die vollendetste Künstlerin im Sattel. — Sie verliessen mit einem Zirkus England, wo man diese Heirat immer missgünstig beurteilte. Jahre blieben sie fort, dann kamen sie wieder und liessen Mary, ihre Älteste, hier, um wieder auf Reisen zu gehen. Diesmal nach Indien, in den Tod!“

      Der Neffe legt plötzlich seine Hand auf die des Oheims.

      „Verzeih! Ich dachte nicht daran, dass ich dir weh tun könnte.“

      Der Resident hält die Hand des Neffen fest. „Es ist die Erinnerung! Sie fasst mich an wie ein Fieberschauer.“

      William nickt. Sagt leise: „Du hast sie geliebt. Deines Bruders Frau. Ich weiss es. Alle wissen es.“

      Der Onkel sieht ihn schnell und scheu an.

      „Still, nichts davon!“ sagt er. Seine Stimme klingt zu einem Flüstern herab. Doch plötzlich tut er einen tiefen Atemzug. Er sieht sich um. Kein Diener ist in der Nähe. Dann beugt er sich zu seinem Neffen. „William“, beginnt er, von neuem die Hand des Offiziers ergreifend, „mein lieber, guter Junge, es ist meine Pflicht, dir einmal die Geschichte dieser deiner Tante Viktoria zu erzählen. Die Geschichte der wunderschönen Viktoria und des Viscount Marshall ... meines Bruders.“

      „Es wird dich zu sehr erregen“, sagt William leise.

      „Nein, es erregt mich nicht mehr als der Gedanke daran, und du musst alles wissen, denn vielleicht bin ich bald nicht mehr hier, und dann ...“

      „Onkel!“ Der Colonel lacht gezwungen. „Du denkst doch nicht ans Sterben? Du, der so viele Gefahren überstanden hat!“

      Der Resident fährt fort, ohne auf den Zwischenruf zu achten: „Ich habe damals, als das Drama an der burmanischen Grenze geschah, ein Gesicht gehabt. Und in den letzten Wochen hatte ich es wieder.“

      „Was für ein Gesicht, Onkel?“

      „Ich sah Viktoria im weissen Totenkleid ... damals ... und jetzt nochmals. Damals rang sie verzweifelt die Hände, aber sie sprach kein Wort. Und ich wusste doch, dass sie lebte, dass sie mit Eduard an der Grenze Nepals weilte. Als ich schweissgebadet erwachte, da hatte ich das klare Gefühl, dass sie in Gefahr schwebte, und bald darauf kamen die unklaren, erschütternden Nachrichten: der Zirkus verschollen — alle tot!“ Er schweigt, dann spricht er leise weiter: „Diesmal sah ich sie wieder. Aber ihr Antlitz ist friedlich geworden. Ihre Augen sind geschlossen, doch ich sehe ihren ruhigen Blick mit unendlich zärtlichem Ausdruck auf mich gerichtet! ... O, William! ... Wenn sie das drittemal erscheinen wird, werde ich sterben!“

      Der Colonel presst die Hand des sonst so rauhen, wortkargen Mannes an seine Brust.

      Lange herrscht Schweigen.

      Die Diener sind wohlerzogen. Sie haben mit feinem Instinkt begriffen, dass ihre Anwesenheit nicht erwünscht ist. Die Männer sind ganz allein. Der Himmel ist voller Sterne. Die Nacht hat ihr Dunkel über die Erde gesenkt. Schwärme von Glühwürmchen ziehen wie kleine Sternschnuppen durch die Büsche. Die Luft ist betäubend. Ströme von Duft atmen die wilden Sympetalen.

      Der Colonel wagt kein Wort in die Stille. — Ein Schakal heult in ungewisser Ferne.

      6.

      Die Gefangene liegt auf dem Ruhebett des Radschas und schläft. Wohlgerüche schweben in der Luft. Stille herrscht, nur fern klirrt dann und wann eine Waffe. Wasser plätschern und vertiefen die Harmonie der Ruhe.

      Radanika schreckt auf und starrt auf die opalene Lampe, die von der Decke hängt.

      Tiefe, nachtschwere Traurigkeit umfängt sie. Sie beginnt zu weinen, sie fürchtet sich. Sie denkt an ihre fernen Freunde. An die Trompetenfanfaren der Elefanten. An die huschenden Tiger. An die spektakelnden Affen, die unermüdlich sind im Ausdenken von Spässen.

      Sie denkt an die gebrechliche Memmsahib, die Leopardenmutter, zwischen deren Weichen sie als Kind geruht, den grünen Dom des Urwaldes bestaunt oder dem Schelten der Affen gelauscht hatte. Sie denkt an Maha, Memmsahibs stärkstes Kind, Maha, die mutige Kämpferin. Ihre unermüdliche Beschützerin. Tot ...

      Einsam wird Memmsahib im Urwald ihr Klagelied um die Verschwundene singen. Sicherlich hat sie längst den roten Schweiss Mahas gerochen.

      Eine heisse, schmerzende Sehnsucht erfasst die weinende Radanika. Die Sehnsucht nach den Dschungeln, nach der Leopardenmutter, nach den Tieren der Wälder, nach der Einsamkeit. Was will man von ihr? Warum hat man sie geraubt? Sie weiss es nicht. Aber dass ihr Gefahr droht, fühlt sie. Denn Radanika ist nicht nur ein Kind der Dschungeln. Sie versteht die Sprache der Eingeborenen, sie kennt die Sprache der Engländer. Dreimal täglich betet sie zu dem grossen Buddha, und seine Lehre lebt in ihrem Herzen wie heiliges Feuer in einem Achatgefäss. Dies ist eines der Gebote des Allwissenden, des Weisen, der die höchste Stufe der Vollendung erreicht hat:

      „Schmücke dich nicht mit Kränzen, Wohlgerüchen und Salben!“

      Man hat aber Radanika geschmückt. Mit Kränzen, Wohlgerüchen und Salben. Sünde ist es, und der Heilige wird sein Antlitz verbergen und trauern.

      Sie schnellt hoch und schleudert die Kränze zu Boden.

      „O, du Erleuchteter“, ruft sie in Erinnerung an ihren Lehrer, den Einsiedler in den Dschungeln, „der du mir Helfer warst, Lehrer und Vater! Du, den ich täglich in seiner Hütte mitten in der Wildnis zwischen Tieren besucht habe — wo bist du? Warum hilfst du mir nicht?

      Paya! Heiliger!

      Als ich zum erstenmal denkend mein Lager in den Dschungeln verliess und landeinwärts suchte, da erblickte ich von ferne deine Bambushütte.

      Kein Gehege schützt dich gegen Tiger und Elefanten. Nichts wehrt die Schlange von deinem Lager.

      Du, einst ein gelehrter Birmane, ein Brahmane, der auf dem heiligen Elefanten ritt, der die gelbe Toga der Priesterkaste trug, der in der Pagode betete, du hast dich zurückgezogen in die Einsamkeit und zu den wilden Tieren. Du hast das Fieber der Sümpfe nicht gescheut, du hast dich nicht geschützt gegen Moskitos und Regen. Wenn selbst die Affen auswandern aus den tiefen Niederungen der Dschungeln, um höher in die Berge zu fliehen vor dem Fieber des Sommers — du bleibst, um in heiliger Versunkenheit über die Geheimnisse des Lebens, der Wiedergeburt und des Nirwana zu sinnen.

      Damals trat ich als Kind vor dich hin, den Menschen anstannend, in deinen Anblick versunken.

      Du aber, den keine Erscheinung in Erstaunen versetzen kann, du stauntest: Kind einer europäischen Mutter, mit deinen seltsamen Augen! Welch unheimliches Wunder führt dich in das Herz des Urwaldes? Du bist kein Geschöpf des Morang. Dich hat keine Frau vom Stamme der Matschi, der letzten Ureinwohner in den Dschungeln, in ihrem Schosse getragen.

      Wer also bist du?

      Ich verstand dich nicht, aber du verstandest meine Gedanken. Und ich sagte dir durch meine Gedanken, die du lesen konntest, wie du alles weisst, was niemand weiss:

      Ich bin das Kind der Leopardenmemmsahib, und Maha, der Leopard, ist meine Schwester. Ich bin, seit ich denken kann, in den Dschungeln. Die Memmsahib, die Leopardin, hat mich gesäugt. Vielleicht hat mich die Lotos geboren, vielleicht lag ich im Schosse einer Orchidee. Dunkel, ganz dunkel habe ich eine Erinnerung: Eine blonde Frau, ein weisser Mann, eine Stadt von Wagen und Pferden — aber das ist wie ein Traum.

      Du, der Einsiedler, hast mich gesegnet, und seitdem besuchte ich dich täglich. Kein Tier greift dich an, keine Schlange beschleicht dich. Die Elefanten gehen im Bogen um deine Hütte und brechen mit Rüsseln und Tritten Wege für dich.

      Du aber

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