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verstört herein.

      „Wer schoss? — Wer ruft? — Wer starb?“ stammelt der Sahib mit irren Augen. Winzige Schaumflocken stehen weiss auf seinen Lippen.

      Die Hindu sehen sich an. Herbeigelockt von dem Alarm eilen der Pferdeknecht, der Boy hinzu. Trotz aller Hast so leise, als bewegten sie sich im Sahasrastam-Mandapam, im Tempel der tausend Säulen.

      Von allen kommt die gleiche Antwort:

      „Nichts, Sahib! Niemand schoss. — Niemand schrie. — Kein Mensch ist gestorben!“

      Sir Kennaths Augen wandern zu dem Bildnis. Diensteifrig hebt es der Schikari, der Jäger, von der Erde auf.

      „Ihr hörtet nichts?“ wiederholt der Engländer mit dunkelnden Augen.

      „Nichts Sahib! Nichts!“

      „Dann fiebere ich ... träume ... aber nein! Nein! Ihr alle lügt! — So täuscht kein Wahn! — Ein Mensch starb! ... Ein Wesen seufzte in letzter Todesnot! Noch schwingt der leise Ton hier in der Luft — ach, so seufzte Mary, ehe sie starb.“

      Der Schikari, treuester Gefährte des Europäers seit Jahren, deutet auf das Bild:

      „Runde Löcher, Sahib, wie von Schüssen!“

      Sir Kennath zittert. Doch er antwortet nicht.

      Der Schikari schaut seinen Herrn an und neigt nur leise das Haupt, als verstehe er die seltsamen Gedankengänge des Sahib. Das Gesinde schleicht sich fort.

      „Durga, die Grausame, ist erzürnt“, flüstert draussen der Boy. „Sie hat ihre Dämonen über den Sahib gesandt. Er ist krank.“

      Der Schikari ist noch bei dem Herrn, wirft sich zu Boden vor dem Götzen, der auf Sir Kennaths Schreibtisch steht, berührt den Staub des Erdbodens.

      „Siwaja nama“, sagt er leise in verzückter Andacht.

      „Ich bete dich an, Siwa“ — dann erhebt er sich.

      „Sahib, das Bild der toten Memmsahib ist durchbohrt. Die edle Memmsahib hat den zweiten Tod erlitten!“ Der Engländer starrt seinen Jäger, den tapferen Genossen bei manch waghalsigem Abenteuer, sprachlos an.

      „Lady Memmsahib“, fährt dieser geheimnisvoll fort, „ist vor Jahren gestorben. Ihre Seele musste wandern. Alle Seelen wandern. Was willst du, Sahib? Selbst die Götter werden Menschen in der Wiedergeburt. Menschen können Götter werden. Die ruhelosen Seelen wandern auch in Steine und Tiere. Finster ist der Weg der Seelen bis zum Nirwana.“

      Der Engländer lächelt. Ein müdes, trauriges Lächeln.

      „Tscham“, sagt er mit unsicherer Stimme, „die Seelen der Toten wandern nicht. Die Memmsahib, meine angebetete junge Frau — war sie nicht wie ein Engel unter euch? Habt ihr sie nicht alle geliebt?“

      „Wir haben sie alle geliebt, Sahib. Aber so sprach Gautama Buddha, der Vollendete, vor seinem Tode zu seinen Jüngern im Rhandagama: ‚Ohne Ruhe und ohne Rast müssen wir den mühsamen Weg der Wiedergeburt wandern, weil uns noch nicht die Erkenntnis von den vier Dingen geworden ist: von der Moral, der Selbstbestimmung, der Weisheit und der Erlösung!‘ — Sahib, wenn die Erleuchteten so viele Leben leben müssen, wundert es dich, dass der Weg der Nichtwissenden lang und mühselig ist?“

      Sir Kennath antwortet:

      „Ich verstehe dich nicht, Tscham, und ich will nichts wissen. Meine Gattin ist tot — —“

      Der Schikari aber antwortet rasch:

      „Und wer schoss in dieser Nacht auf sie?“

      „Niemand! Wer schiesst auf Tote in Gräbern?“

      „Es gibt keine Toten. Alles Leben lebt, Sahib. Du hast die Schüsse gehört, denn die Liebe ist stärker als der Tod. Sündige Menschen haben die Memmsahib in ihrem zweiten Leben getötet!“

      „Ich will nichts mehr hören!“ ruft der Europäer und hält sich die Ohren zu. „Du machst mich wahnsinnig, Tscham!“

      „Ich gehe“, sagt der Schikari unterwürfig. „Doch noch eins, Sahib: In den Dschungeln wohnt ein Heiliger, ein Yoghin, ein Brahmane, der wie der Erleuchtete selbst allen Glanz des Lebens verlassen hat und nur der Besinnung lebt. Er ist mitten unter den wilden Tieren, aber die Seelen erkennen ihn. Frage den Erleuchteten, dessen Haupthaar so lang ist, wie sein Körper an Höhe misst, dessen Augen so unergründlich sind wie die Smaragde des Himalaja. Frage ihn, Sahib.“

      Der treue Schikari geht.

      Sir Kennaths Blick ruht auf dem Bildnis der Toten. Ihre Augen waren gross, länglich und von dunklem Blond. Sie hielten den Beschauer magisch fest, ohne sich ihm selbst jemals gefangen zu geben. Die Brauen spannten sich darüber wie zierliche Lackbogen, flüchtig und schnell beweglich, die schmerzliche Süsse um den mädchenhaften Mund steigerte den Eindruck einer Seele, die, stets beschwingt, dem Leben bald traurig entgegenfliegt, bald mit gebrochenen Flügeln ihm entflieht ...

      Bei diesen Gedanken senkt Sir Kennath den Kopf auf die Hände. Denn Lady Kennath hat in der Blüte ihres Lebens ihrem Leben selbst ein Endegesetzt — und nie konnte ihr Gatte erfahren, was sie zu dieser Flucht aus einer harmonischen Ehe bewogen hatte. Was konnte ihr fehlen?

      Tochter eines schottischen Grossgrundbesitzers aus altem Adel, war sie selbst sehr reich. Ihre Mutter freilich — hier zieht fahle Blässe über das braune Gesicht des Engländers — ihre Mutter war die berühmte Schulreiterin Viktoria Maria Sulfon gewesen, und beide, Vater und Mutter, hat ein unbekanntes grausames Geschick verschlungen.

      Sir Kennath ist wieder allein in der Einsamkeit mit seinem Schmerz und seiner Trauer, die wie das Fieber in den Dschungeln in ihm wütet.

      Fieber?

      Was ist das? Was sieht er?

      Fieber?

      Eine Vision?

      Ein Gesicht?

      Wie er scheu hinunterblickt zu dem herabgestürzten Bildnis, da löst sich aus dem fahlen Dunkel ein Schatten. Ein Tier. Sir Kennath hat nicht das Bewusstsein, dass dieser geschmeidige Leib einem Leoparden angehört. Und doch ist es ein Leopard, der unhörbar durch die blaue Finsternis schreitet. Seine Lichter leuchten hinüber zu dem Einsamen. Eine unendliche Wehmut ergreift ihn. Schmerz ohnegleichen. Und Furcht. Unheimliches Bangen, Grauen erschüttern ihn. Seine Augen sind glanzlos, als hätten sie ihr Licht nach innen in seine Seele gesandt. Vielleicht sieht nur seine Seele, was keines Sterblichen Auge erblicken würde. Dieses Tier, sonst gefürchtet, gejagt, gehetzt und gehasst, dieses Tier blickt ihn an in unbeschreiblicher Güte, mit einem Ausdruck himmlischr Sanftheit. Dieser überirdische Glanz senkt sich schmerzhaft und glühend in das Herz des Mannes in dieser Nacht der Wunder.

      Er ist losgelöst von aller Nüchternheit des Tages. Er weiss nichts von Logik, Sinn, Philosophie. Die Welt der Mathematik und Menschenweisheit ist nicht mehr.

      Seine Seele schaut und fühlt, und nur die Seele denkt im Gefühl. Und dieses Gefühl ist Musik von sinnbetörendem Wohlklang, sie trägt auf ihren Wellen alles Leid der Erde.

      Aber dieses ist die höchste Harmonie der Geistigkeit.

      Und er, der Europäer, im Banne dieser überirdischen Güte, dieser Hingabe alles Sein, dieser Verlöschtheit alles Irdischen, denkt an Mary, die Tote. Dies sind Marys Augen, als sie starb. Dieses Tier in der Nacht der Legende ist Mary, und eine Sehnsucht ergreift ihn, Sehnsucht von solcher Grenzenlosigkeit, dass sie ihn wie das Himmelsgewölbe umfängt und er sich hineinstürzt in die Unendlichkeit des Leides.

      „Mary! Liebe, Geliebte! Gütige! Tote! Du bist gekommen! Ich sehne mich! Ich liebe dich! Ich suche dich! Äonen vielleicht, Äonen! Mary!“

      Er streckt die Arme aus. Ein Atem streift ihn. Rhododendronluft weht durch das Zimmer. Eine Kältewelle stürzt herein. Der Gaurisankar scheint den Odem seiner Gletscher auszuhauchen.

      Sir Kennath schauert.

      War es ein Atemzug nur — sind Stunden vergangen? Alles ist wieder Nebel, Nebel

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