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Radanika. Die Gefangene des Urwalds. Robert Heymann
Читать онлайн.Название Radanika. Die Gefangene des Urwalds
Год выпуска 0
isbn 9788711503706
Автор произведения Robert Heymann
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Bebend vor Kampfeslust sieht die Leopardin sich um. Die Ochsen sind in entsetztem Trab geflüchtet. In blindem Entsetzen reissen sie Joch und Karren mit sich über die endlose Strasse. Die Räuber sind nachgelaufen, um endlich zu ihren Gewehren zu gelangen. Die Salve, die sie der Leopardin entgegensenden, ist zu unüberlegt abgegeben, um ihr den Tod zu bringen. Wohl aber verwunden sie zwei Kugeln. Auch die durch den Hund gerissene Wunde schmerzt sie rasend — überdies blendet sie das ungewohnte Tageslicht und macht sie unsicher. Mit einem Satz, der selbst den Schützen einen lauten Ausruf der Bewunderung abnötigt, rettet sich das alte Tier auf die Felsen und in den schützenden Wald.
Todesmatt, ohne Atem, sinkt sie mit schlagenden Flanken in die Dunkelheit der Dschungeln. —
4.
„Dreihundert Rupien“, sagt der Negrito zu dem Palastaufseher. Feilschend stehen sie im Vorhof zum Harem. Auf der einen Seite liegt das stets verschlossene Tor, das in die Gärten des Fürsten führt, auf der anderen Seite der Palast, milchweisser Marmor, von Rosenfarben umschwebt. Fliehende Bogen, Söller, Galerien, Tore, eine Moschee in Gold und Azur. Wände mit Blumenornamenten. Arabesken in funkelnden Edelsteinen. Ein Märchen in Marmor, geschützt von Mauern aus rotem Sandstein mit Türmen und Türmchen.
In dem Park Säulenreihen und steinerne Treppenfluchten. Gigantische Deodarzedern, die königlichen Bäume, göttlich verehrt von den Bergbewohnern, Riesenbananen und Palmköniginnen, belebt von Papageien und Sonnenvögeln. In den Zweigen der rotblühenden Pracht des Regenbaumes singt die Bulbul, die indische Nachtigall. Über allen Gärten die berauschenden Düfte des Rhododendron. Scharlachroter Gibiskus wechselt mit den brennenden, todbringenden Aritabeeren.
„Hundert“, beharrt der Palastwächter. Seine tückischen Augen schielen unter den weissen Brauen zum Haupttor, unter dem eine Gruppe Männer um eine farbenbunte Ekka steht. Von dem Baldachin fallen dichte Vorhänge nieder.
„Zweihundertfünfzig“, antwortet der Neger mit schmeichelnder Stimme. Der Führer der Räuber hat ein grobes, schwarzes Gesicht. Er ist ein Minkopies von den Andamanen. Brahma mag wissen, welche Abenteuer ihn von den Inseln auf das ostindische Festland verschlagen haben. Der alte Palasthüter, dem die Versorgung des Harems untersteht, hat die Schönheit in der Sänfte bereits in Augenschein genommen. Er braucht die Menschenjäger, denen zu jeder Stunde, wenn sie Briten oder Niederländern in die Hände fallen, der Galgen sicher ist.
Schliesslich einigt man sich auf zweihundert Rupien. Die Sänfte wird in den inneren Hof gebracht. Die Räuber verlassen das Gebiet des Radscha. Kaum ist das Tor wieder geschlossen, da stürzen die herumlungernden Diener herbei, reissen auf Befehl Randschits, des Palastwächters, die Vorhänge zurück und heben die Gefesselte heraus.
Radanika ist halb von Sinnen. Man trägt sie ins Innere des Frauenhauses.
Da fühlt sie sich plötzlich frei, schlägt die Augen auf und mustert ihre neue Umgebung.
In einer weiten, kühlen Marmorhalle, von Arkaden umrahmt, plätschert ein Springbrunnen in einem grossen Bassin. Ein Dutzend Frauen, eben noch mit Schwatzen, Lachen und Girren beschäftigt, sitzen und stehen umher und betrachten mit aufdringlicher Neugierde die neu Angekommene.
Eine Afridin aus den Salzsümpfen Afghanistans bricht das lastende Schweigen mit einem schrillen Gelächter:
„Seht doch, seht! Sie ist halb weiss, halb braun. Dies Gewächs weiss sicher selbst nicht, aus welch niederer Kaste es herkommt. Man hat es wohl aufgelesen bei den Unreinen oder Aussätzigen!“
Gelächter antwortet.
„Ihr werdet sehen, sie ist ein Paria“, ruft ein Weib aus Ceylon. „Eine Tschandal ist sie, aus der letzten schmutzigen Hindukaste. Oder gar eine Rodia, eine verdammte Singhalesin der Perleninsel, die kein Tamule berühren würde, ohne sich wochenlang zu reinigen!“
Alle schreien durcheinander und rücken von dem Freiwild ab. Doch je mehr sich die Frauen des Radschas bemühen, sie zu demütigen, desto höher scheint das seltsame Mädchen zu wachsen. Die Fremdheit, die Schönheit und Hoheit dieses Kindes, einer Fürstin unter Sklavinnen, entzündet immer mehr die Wut derer, die nie so schön, so unnahbar und kostbar waren wie diese Blume der Wälder.
Die Jüngste, eine Mongolin aus den Laurinenwäldern des Himalaja, die von räuberischen Baptschas an der Grenze Nepals eingefangen wurde, tritt ganz nahe an Radanika heran, blitzt sie aus ihren schiefen Augen an und spuckt ihr plötzlich ins Gesicht. Da erst schnellt Radanika mit einem Sprung vorwärts und ergreift die Flüchtende bei den struppigen Zöpfen. Dieses Kind, dessen Gelenke zart wie Blumenkelche sind, hebt die Asiatin mit unnatürlicher Kraft vom Boden empor in die Luft, dass die Reifen an den strampelnden Beinen der Bestraften gegeneinanderklingen und ihr Wehgeheul das Frauenhaus durchgellt, und stösst sie dann in die Kissen, wie man eine Natter im Gefühl des Ekels und der Überlegenheit von sich schleudert.
Schon stürzt Randschit in eigener Person herein, nach der Ursache des Lärms zu forschen, da entsteht draussen Bewegung. Rufe ertönen, Waffen klirren. Der alte Hausbeamte eilt zum Eingang. Die Türe des Harems fliegt auf. Der Radscha steht an der Schwelle. An seiner Seite zwei Europäer. Der eine grau, ernst, mit versteinerten Zügen, der andere jung, blond, ein neugieriges Lächeln auf den Lippen.
Der Radscha beleibt. Kein Osmane. Kein Inder. Mohammedaner, mit langem, schwarzem Bart, den nie eine Schere entheiligt hat. So befiehlt es der Prophet. Eitelkeit hat den Herrscher verleitet, seinen Harem fremden Augen preiszubieten. Die kleinen, träge blinzelnden Augen sind grausam, verraten Kälte und Tücke.
Radanika verbirgt sich hinter einem Ruhebett. Doch der Radscha hat sie schon gesehen. Auf sie deutend, sagt er zu seinen Gästen in englischer Sprache: „Eine Frau aus dem Urwald, wild und menschenfremd. Wir werden sie zähmen.“
So sehr sich auch die anderen Insassinnen des Harems bemühen, die Aufmerksamkeit des Radschas oder des hübschen Jungen in der englischen Uniform zu erregen, niemand beachtet sie.
Mit weit geöffneten Augen steht der Jüngling, ein Colonel, verfolgt die Bewegungen des Fürsten, der das Kind hinter dem Ruhebett aufjagt. Sein älterer Begleiter und Onkel, Sir Marshall, der englische „political agent“, der mit ausdrücklicher Regierungsweisung als Gesandter-Resident hierherkam, sich jeder Einmischung in innere Angelegenheiten des Fürsten zu enthalten, steht unbeweglich.
„Ist nun der Sklavenhandel abgeschafft oder nicht?“ fragt der Jüngling zornig, mit gedämpfter Stimme, seinen Oheim, während seine Augen der unwürdigen Jagd im Harem folgen. Sir Marshall zuckt die Achseln, antwortet ebenso leise: „Seit 1890.“ „So? Und ist dieses unschuldige Geschöpf nicht eingefangen worden wie Wild? Welches Schicksal erwartet es?“
Der Maharadscha jagt, zum Ergötzen der Haremsfrauen und Palastbeamten, dem flinken Mädchen aus dem Urwald nach, das in Nischen und hinter Mauervorsprüngen Schutz sucht.
„Ihr Schicksal?“ erwidert der Political agent Englands mit einer Stimme, die von weither zu kommen scheint. „Man wird ihr Haschisch oder japanisches Saké zu trinken geben. Und schliesslich ist sie wie die anderen.“
„Diese? Nie, Onkel, nie! Hier vollzieht sich ein Verbrechen, und ich frage, wozu du die britische Flagge vertrittst, wenn du zulässt, dass man unter deinen Augen Menschenhandel treibt!“
Sir Marshall schaut seinen Neffen halb erschrocken, halb erstaunt aus seinen grossen, steingrauen Augen an, denen nichts abzulesen ist als kühle Pflichterfüllung, die sozusagen ausserhalb aller Leidenschaften des Lebens stehen.
Nicht so William. Mit zuckendem Mund steht er da, die Hand an der Waffe.
„William“, antwortet endlich der Gesandte, „du bist unerfahren und jung. Ich warne dich! Glaubst du, ich hätte mich auf diesen vorgeschobenen Posten des Britischen Reiches stellen lassen, um das Feuer zu wecken, das seit Jahren unter unseren Füssen glimmt? Meine Aufgabe ist schwerer, verantwortungsvoller, als du ahnst. Ein falsches Wort, eine voreilige Geste, mit der wir uns verraten,