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Gott weiss wo sonst hin! Nee — nee! Ich trau’ dem Zauber hier nicht mehr! Lassen Sie mich sofort hinaus, wie ich hier geh’ und steh’ . . . oder . . .“

      „Um Gottes willen — gnädiges Fräulein — stampfen Sie nicht mit dem Fuss! Beunruhigen Sie die Kranken nicht! . . . Ganz wie Sie wollen . . .“ Der Anstaltsarzt liess Lill vorsichtig durch den leise fussbreit gelüfteten Torspalt schlüpfen. Er schritt ihr voraus bis zum Eingang. Lill witschte wie ein Vogel aus dem Käfig zwischen den aufspringenden Gittern durch.

      „Laufen Sie doch nicht so unheimlich schnell, gnädiges Fräulein! Man traut ja seinen Augen nicht!“ rief ihr der Doktor nach. Aber Lill rannte in den langen, federnden Sprungsätzen des Sportplatzes in die Nacht hinaus, den Weg zurück, den sie gekommen. Erst bei der Baumgruppe an der Strassenbiegung fühlte sie sich in Sicherheit. Hinter der war die Lichtspiegelung des hellerleuchteten Geisterhauses drüben von dem schwarzen Nichts verschluckt, als sei sie nie gewesen. Lill ging langsam weiter. Um sie war alles still. Alles stockdunkel. Auch der Mond weg. Es war, als sei man allein auf der Welt. Und sah doch noch vor den überreizten Augen die Fratzen tanzen. Und hörte nichts als das gleichmässige Klappen der eigenen Schritte. Lill fürchtete sich vor dem einsamen, regelmässigen Laut. Sie fürchtete sich beinahe vor sich selber. Sie machte halt. Aber nun vernahm sie durch die pechfinstere Kirchhofsruhe wie heftige Hammerschläge das Pochwerk ihres Herzens. Auch davor graute ihr. Sie setzte ihren Weg fort, in einer stillen, das Herz pressenden Angst. Warum eigentlich? Man war ja doch glücklich aus dem Kasten dahinten wieder ’raus — Angst vor dem Leben . . . das war auf einmal so ganz anders — unglückselige Menschen — furchtbare Sachen — das konnte einem selber auch mal passieren! Man war noch jung. Man fing das Leben erst an. Gott weiss, was es einem noch so brachte . . . Eine bleierne, schattenhafte Last auf der Seele . . . Lill schlürfte trübe dahin. Die schlafenden Villen — die Vorgärten glitten an ihr vorüber — die Köter kläfften. Dann bog sie nach links. Da drüben schien das eigentliche Städtchen zu sein. Es dämmerte da eine Parkanlage. Sie setzte sich matt auf eine Bank. Irgendwo, nicht weit, plätscherte ein Springbrunnen. Von dem nahen Bahnhof tönten Lokomotivpfiffe und das Puffergepolter rangierender Wagen. Lill sass und schaute vor sich hinaus in das Dunkel und frug sich: Warum bin ich denn nur auf einmal so furchtbar traurig? Ich möchte am liebsten heulen — ohne jeden Grund . . . Ich tu’ mir so leid — dabei geht’s mir doch so gut — alle Menschen tun mir leid . . . Da kommen Menschen — ein Herr und eine Dame . . . Sie werden mich womöglich fragen, weshalb ich hier in der Nacht herumsitze . . . Sie schnellte auf. Sie überquerte den Platz. Sie ging eine kurze Strasse entlang. An deren Ende lichtete es sich verheissungsvoll hell. Das Bild von vorhin: Ein grosses Gebäude, Lichterglanz aus allen Fenstern zur ebenen Erde, Musik aus dem Innern, ein weiter Park umher . . .

      Lill fröstelte. War das schon wieder das Irrenhaus? Nein: über dem Portal leuchtete in grossen, goldenen Lettern: „Kurhaus“. Und auf den Treppenstufen und auf dem Kies der Vorfahrt standen sie ja, in Gruppen, und schauten suchend und unruhig in die Nacht: Ihr Bruder . . . und die Rix . . . und die Bine . . . und die Mab . . . und der Yo. . . und der Fips . . . und Lämmchen Jericho . . . und Wilm . . .

      Hurra! Auf einmal war Lill die Alte. Sie rannte stürmisch aus dem Dunkel hervor. Sie schwenkte begrüssend den dünnen, langen Arm. Lärm drüben.

      „Lill, wo kommst Du denn her?“

      „Ihr Schufte! Konnte mich denn keiner von Euch abholen?

      „Wo hast Du denn nur die ganze Zeit gesteckt?“

      „Warum habt Ihr mir denn nicht wenigstens ’nen Wagen an die Bahn geschickt, Ihr Fassadenkletterer?“

      „Das Hotelauto hat ja gewartet!“

      „Ich hab’ es nicht gesehen!“

      „Weil Du an der falschen Seite ’rausgetost bist — links statt rechts!“ rief Geo Bödiger, der Bruder — ein Jahr älter als Lill, glattrasiert, im Tanz-Smoking, eine Gardenia im Knopfloch. „Ich bin nachher selber auf die Station, wie das Auto leer zurückkam, und hab’ gefragt! Da hatten sie Dich wohl gesichtet, wie Du fehlgingst. Sie wollten Dir noch nachrufen! Aber Du warst schon weg!“

      „So! Na — dann hab’ ich die Dummheit gemacht!“

      „Aber wie Du’s gemerkt hast — warum bist Du denn da nicht umgedreht?“

      „Kann ich denn wissen, wo Ihr Euren Saftladen aufgemacht habt?“ schrie Lill und strömte mit ihrer Schar in die Hotelhalle. Ihre Wangen glühten. Ihre Augen glänzten. „Ihr werdet Euch wundern, was ich erlebt hab’.“

      „Wo warst Du denn?“

      „In der Gummizelle!“ sprach Lill kühl.

      „Ich glaub’, die Lill fiebert!“

      „Sie hat ganz rote Backen!“

      „Lill — nun red’ mal vernünftig!“

      „Vernünftig? Wenn ich da war, wo die verrückten sind? . . . Tatsache! . . . Da wurde feste getanzt — gerade wie Ihr hier!“

      „Lill hat ’nen Schwips!“

      „Sehr nette Leute! Sie wollten mich gleich dabehalten! Na — da zog ich doch Leine!“

      „Du bist furchtbar aufgeregt, Lill!“

      „Nun muss ich mich nur schnell umpellen! Rix — Du pumpst mir irgendeines von Deinen Kleidchen, bis mein Koffer kommt! . . . Tanzt nur ruhig weiter! Ich bin gleich wieder unten . . . Nanu? — Ihr kommt mit? . . . Rix? Bine? Mab? Na schön!“

      „Gut — dann gehen wir inzwischen an die Bar!“

      ,,Tut das! Jonny — steh nicht mit offenem Mund — das wirkt öde! Lass’ Dir mal die Krawatte schief zupfen!. . Es soll doch etwas Nachlässig-Dämonisches um Dich sein . . . aber Du bist schon wieder ganz verwildert, die zwei Tage ohne mich! . . . Vorwärts! Nu liften wir ’rauf!“

      Bett, Tisch, Stühle — das ganze Hotelzimmer leuchtete buntscheckig von seidenpapierdünnen Tanzfähnchen in Nilgrün, Bleu, Blau, Flohbraun, Lachs, Altrosa. Rigmor Grusemann kramte immer neue Bündel aus ihrem aufrecht wie ein Schilderhaus an der Wand stehenden Schrankkoffer. Keines der farbigen Spinnwebe wog viel mehr als ein solides Taschentuch. Dabei war die Rix gross — so gross wie Lill — und beinahe noch dünner. Hellblond — die Haare ganz kurz wie ein Mann geschnitten, glattgestrählt und rechts gescheitelt. Sie hielt sich auch wie ein Mann, mit absichtlich schlenkrigen Bewegungen und langen Schritten, während sie vom Schrank in die Zimmermitte und zurückging, und wahrte, die Zigarette schief im Mundwinkel, auf ihrem herb-hübschen, regelmässigen Antlitz den Ausdruck sachlicher, überlegener, männlicher Kühle.

      Die Bine Herold, wie ein Kätzchen in die Sofaecke gekuschelt, war weicher. Zierlich, nur mittelgross. Auch mager gehungert selbstverständlich — aber doch mit Neigung zur Wiener Figur. Ein zartes Gesichtchen. Süsse Schwermut im geheimnisvoll fragenden Aufschlag der grossen dunklen Augen. Phantastisches, blauschwarz-seidenes Haargespinst, rechts und links um die Ohren geplustert. Ein herzförmiger, blutrot getupfter, kleiner Mund hinter Wolken einer fingerdicken ägyptischen Zigarette nach der anderen.

      Die dritte, die Mab Immich, drückte die Schönheit nicht. Eine kleine Spinne, schon an die dreissig, sportzäh, mit neugierigen Freundschaftsaugen. Eine verständnisinnige Vertraute, wie sie schweigsam-geschäftig, gleich einer Kammerfrau, die bunte Fähnchenparade wieder über die Bügel hängte.

      Denn Lill hatte endlich gewählt. Sie stand noch mit schmächtig weissen Schultern und Armen vor dem Spiegel, betrachtete noch einmal sachlich das schöne, junge, schlanke Geschöpf da drinnen und schlüpfte dann wie eine Eidechse in das goldgestickte, hemdartige Hängerchen, das die Rix, die Zigarette im Mund, ihr über die dunkelblonden Dauerwellen stülpte. Dabei berichtete sie die ganze Zeit.

      „Ja also eigentlich wirken die Leute dort auch nicht viel verdrehter als wir!“ schloss sie und langte nun auch nach der Zigarettendose. „Bloss Walzer tanzen sie närrisch — immer ’rum — da muss man ja den Drehwurm kriegen! Ich weiss nicht, wo unsere Vorfahren die Puste dazu aufgebracht haben . . .“

      „Gott

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