ТОП просматриваемых книг сайта:
Gehirnstation. Marie Louise Fischer
Читать онлайн.Название Gehirnstation
Год выпуска 0
isbn 9788711718810
Автор произведения Marie Louise Fischer
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
»Hier die HNO-Untersuchung«, sagte er. »Wir können sie außer acht lassen. Wenn Sie jetzt einen Blick auf das EEG werfen wollen, Herr Professor …«
Professor Hornstein betrachtete lange die Kurve des Elektronencephalogramms. Sie zeigte erschreckende Abweichungen von der Normalkurve.
Dr. Rissanen und Dr. Paltkala sahen den Professor gespannt an. Doch er legte die graphischen Darstellungen ohne ein Wort zu sagen beiseite.
»Röntgen?«
Der Reihe nach reichte Dr. Rissanen jetzt die Röntgenbilder. Professor Hornstein hielt jedes einzelne gegen das Licht und betrachtete es lange.
»Vertiefungen der Schädelcalotte …«, murmelte er wie für sich selbst, »typischer Wolkenschädel. Weiter! Sie haben doch punktiert?«
»Ja. Wir haben uns bemüht, eine Darstellung des gesamten Hirnkammersystems zu erreichen. Bin gespannt, was Sie von diesen Aufnahmen halten.«
An den Röntgenaufnahmen war ganz deutlich erkennbar, daß das Hirnkammersystem in einer bestimmten, charakteristischen Weise verlagert war. Bei der Gehirnerkrankung des Nobelpreisträgers handelte es sich ohne Zweifel um einen Tumor, der örtlich genau bestimmbar war.
»Gute Arbeit«, sagte der Professor anerkennend, als er das letzte Bild aus der Hand legte.
»Ihre Diagnose?« fragte Dr. Paltkala.
Professor Hornstein sah den grauhaarigen, zierlichen alten Herrn nachdenklich an.
»Ich nehme an, Kollege Rissanen hatte Ihnen reinen Wein eingeschenkt?«
»Ich hatte gehofft…«
Der Professor schnitt ihm mit einer ungeduldigen Handbewegung das Wort ab. »Ein Tumor. Außerordentlich groß. Sitzt mitten im Stirnhirn.«
»Bösartig?« Die Stimme des alten Arztes zitterte nun kaum merklich.
»Bösartig oder nicht … Eine Geschwulst in der dritten Hirnkammer ist immer bösartig, ich meine gefährlich, leberisbedrohend. Nur sehr schwer zu operieren. Oder besser — aussichtslos. Ob es ein Karzinom ist…« Professor Hornstein zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall scheint mir hier ein Eingriff ohne jede Aussicht auf Erfolg zu sein.«
»Dann ist er so gut wie …«
Professor Hornstein nickte. Alle kannten das Wort, das auszusprechen sich der alte Arzt scheute.
»Aber — aber wir haben alle Hoffnung auf eine Operation gesetzt.« Jetzt zitterte die Stimme des Alten so sehr, daß er kaum sprechen konnte.
»Das tut mir leid.« Professor Hornstein wandte sich an Dr. Rissanen. »Dann kann ich Ihnen, Herr Kollege, den Vorwurf nicht ersparen«, sprach er langsam und sehr betont weiter, »daß Sie eingermaßen leichtfertig waren. Sie haben lange genug mit mir zusammengearbeitet, um zu wissen …«
»Ich weiß alles, was Sie mir jetzt sagen wollen«, begann Dr. Rissanen nach einigen Augenblicken gespannten, unbehaglichen Schweigens. »Ich habe Sie trotzdem gerufen. Ich konnte nicht anders. Es geht jetzt nicht nur darum, was die Wissenschaft mit dem Tode Förk Kueinens verlieren würde. Er — er ist nicht nur ein Wissenschaftler. Seine Bedeutung geht viel tiefer. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Es ist der Mann Förk Kueinen, der für Finnland so viel bedeutet. Und deshalb versuche ich trotz allem, an ein Wunder zu glauben.«
»Es gibt keine Wunder. Das wissen Sie so gut wie ich.«
»Ich glaube doch.« Rissanen sagte dies sehr bestimmt. »Ich selbst habe bei Ihnen einige Operationen gesehen, die ans Wunderbare grenzten. Sie müssen es versuchen, Herr Professor, bitte …!« Und nach einer Weile: »Frau Birke Kueinen wartet im Vorzimmer.«
»Wieso — wer ist das? Seine Frau?«
Dr. Rissanen nickte.
»Und was soll ich dabei?«
»Sie weiß, wie ernst die Erkrankung ihres Mannes ist… aber auch sie hat gehofft, daß durch eine Operation … sie ist eine prächtige, tapfere Frau. Sprechen Sie doch mit ihr, Herr Professor.«
»Das habt ihr euch ja gut ausgedacht!« brauste Professor Hornstein auf. »Ihr laßt mich aus Deutschland kommen, damit ich der Frau sagen soll: Aus, nichts zu machen, Ihr Mann muß sterben. So ist’s doch, nicht wahr? Weil ihr zu feige ward, es ihr selbst zu sagen. Zum Teufel — wohin bin ich geraten!« Während er die letzten Sätze hinausschrie, wußte er, wie sinnlos seine Beschuldigungen waren und wie sehr sie die beiden Männer treffen mußten. Aber er konnte sich nicht helfen, er mußte sie anschreien, er mußte …
»Bitte …!« Das war der alte Arzt. Professor Hornstein sah ihn an, als würde er seine Anwesenheit erst jetzt wieder bemerken, und seine Stimmung schlug um.
»Ach ja«, sagte er müde. »Schon gut. Entschuldigen Sie. Also — in Gottes Namen! Lassen Sie Frau Kueinen herein.«
Birke Kueinen war eine mittelgroße, einfache Frau mit einem klaren, ausdrucksvollen Gesicht und großen, ernsten und sehr hellen Augen, denen man es ansah, wie sehr sie sich bemühte, ruhig zu erscheinen. Ihre Stimme war fest, als sie sagte:
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Professor, daß Sie unserer Einladung Folge geleistet haben.« Ihr Deutsch war gut, wenn auch ziemlich hart akzentuiert. Und bevor noch Professor Hornstein etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Bitte, sagen Sie mir ganz ehrlich, was Sie von dem Zustand meines Mannes halten.«
Professor Hornstein zögerte einen Augenblick, dann sagte er: »Leider, gnädige Frau… ich wäre glücklich, wenn ich etwas anderes sagen könnte … muß ich die Diagnose meines Kollegen Rissanen bestätigen. Tumor im Stirnhirn. Und aller Wahrscheinlichkeit nach inoperabel.«
»Sind Sie ganz sicher, Herr Professor?« Das Gesicht der Frau Kueinen war kreideweiß geworden.
Professor Hornstein nickte.
»Sie sagen: aller Wahrscheinlichkeit nach inoperabel. Also — besteht noch eine kleine Möglichkeit?«
»Vielleicht. Aber sie ist winzig klein. Eins zu hundert.«
»Dann…«, sagte die Frau langsam, und so, als wäre sie plötzlich in weite Fernen gerückt, »dann müssen Sie operieren. Selbst die kleinste Möglichkeit … eins zu hundert oder eins zu tausend … wir müssen sie nutzen. Die Argumente, mein Mann müßte der Wissenschaft erhalten werden, ich habe es in der Zeitung gelesen, sind mir gleichgültig. Er — er ist einzig und allein mein Mann. Ich liebe ihn. Wenn Sie nicht operieren, wird er sterben. Vielleicht noch ein paar Wochen, vielleicht sogar Monate … dahindämmern … er wird mich nicht mehr erkennen … und immer diese Schmerzen, Qualen, immer, immer. Und weil ich ihn liebe, werde ich wünschen: Stirb, bitte stirb, lieber Gott, laß ihn schnell sterben, laß ihn nicht länger diese Schmerzen erleiden, laß ihn sterben …!«
Das letzte flüsterte sie nur noch. In ihren Augen stand eine solch schreckliche Qual, daß es Professor Hornstein nicht mehr ertragen konnte. Er senkte den Blick.
»Bitte, Herr Professor«, sagte Birke Kueinen jetzt mit klarer Stimme, »bitte, operieren Sie. Bitte!«
»Ja«, sagte Professor Hornstein.
»Jetzt gleich. Bitte!«
»Ja.«
Im großen OP-Saal von Dr. Rissanen gleißten die Lampen. Es herrschte eine atemlose, gespannte Stille, in der nichts zu hören war als das überlaute Geräusch des Saugers.
Professor Hornstein hatte die Dura, die Hirnhaut des Patienten Förk Kueinen, freigelegt. Die OP-Schwester, eine kräftige, schweigsam-umsichtige Person, legte die bisher gebrauchten Instrumente — Skalpell, Pinzetten, Haken, Knochenzange und Knochensäge — zur Seite, ordnete die besonders feinen Pinzetten, Hirnspachtel, Duraskalpelle und Scheren auf dem Tisch.