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Gehirnstation. Marie Louise Fischer
Читать онлайн.Название Gehirnstation
Год выпуска 0
isbn 9788711718810
Автор произведения Marie Louise Fischer
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
»Fertig!«
Angelika, die im Vorraum bereits ausgezogen worden war, lag mit weißen Tüchern bedeckt auf dem Operationstisch. Ihr sorgfältig rasiertes Köpfchen wirkte winzig klein. Ihre Atmung setzte nicht eine Sekunde aus. Die Ärztin konnte sich den Druck auf den Atembeutel sparen. Die Mischung als Lachgas und Sauerstoff drang in die Lunge der kleinen Patientin und hielt sie in tiefem Schlaf umfangen, der keine Schmerzen kannte.
Eva Hochhoff war zufrieden. Jetzt blieb ihr nur noch übrig, die Sauerstoff- und Lachgaszufuhr dauernd zu überprüfen und Angelikas Körperfunktionen zu überwachen. Puls und Blutdruck waren in Ordnung — und blieben es hoffentlich während der ganzen Operation.
Während Eva auf das Gesichtchen des schlafenden Kindes niedersah, dachte sie an das kurze Gespräch mit dem Oberarzt, als er ihr gesagt hatte, er hätte sich doch entschlossen, Angelika zu operieren — gegen den Willen des Professors.
»Die Eltern hätten ihre Einwilligung nicht ein zweites Mal gegeben«, hatte er gesagt. »Ich weiß es genau. Und dann gnade Gott der Kleinen.«
»Sind Sie sich über die Folgen im klaren, Herr Oberarzt?« hatte sie, Eva, daraufhin gefragt.
Er hatte sie lange angesehen, bleich und grübelnd, so wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Schließlich hatte er langsam gesagt, Worte, die sie immer im Gedächtnis behalten würde:
»Irgendwann einmal wird jeder vor eine Entscheidung gestellt. Und dann muß man das tun, was man selbst für richtig hält, auch wenn die Konsequenzen schwer zu tragen sind. Schließlich muß ich ja noch ein ganzes Leben lang mit mir selbst auskommen …«
Olga, die Operationsschwester, überprüfte noch einmal Angelikas Lage. Das Kind durfte während der Operation keinerlei Druck ausgesetzt sein. Das Köpfchen lag locker in der Kopfstütze.
»Ein hübsches Kind«, sagte die Operationsschwester leise, während sie die Kopfhaut der Kleinen noch einmal mit Jod anstrich. Ihr strenges Gesicht war seltsam weich, ihr Mund lächelte. So war es immer gewesen, wenn ein Kind auf dem Operationstisch lag. Sie beugte sich tief über das Gesichtchen und machte mit dem Daumen das Zeichen des Kreuzes über die Stirn. »Gott behüte dich —!« flüsterte sie, »dich und — ihn.« Dann richtete sie sich wieder auf und war wieder so wie stets: Nüchtern, streng und sachlich, eine Operationsschwester, die jeden Handgriff im Schlaf beherrschte und ihn mit der Präzision einer Maschine ausführte.
»Fertig!«
Jetzt kam Oberarzt Dr. Carl Westhaus aus dem Waschraum, gefolgt von seinem Assistenten Dr. Fröhlich. Sein Gesicht war bleich, ruhig, gesammelt. Er lächelte Dr. Eva Hochhoff kurz zu, ließ sich dann auf dem verstellbaren Drehstuhl hinter dem Kinderkopf nieder. Rechts neben ihm stand Schwester Olga, links Dr. Fröhlich, im Hintergrund Schwester Gerda, bereit, auf den leisesten Wink zu Hilfe zu kommen.
Der Oberarzt sah Dr. Eva Hochhoff und Schwester Olga fragend an. Sie nickten.
»Also —!«
Bedachtsam führte er den ersten, halbkreisförmigen Schnitt über die Kopfhaut des Kindes, schlug den Hautlappen zurück.
Die große Wunde blutete kaum. Dr. Fröhlich betätigte den Sauger. Das Gefäß wurde sichtbar. Dr. Westhaus ergriff es mit den Klemmen.
»Strom!«
Der Assistent legte die Diathermienadel an, trat auf das Kontaktpedal. In wenigen Sekunden war die Blutung gestillt, das Gefäßende verschmort.
Der Schädelknochen lag frei. Die Spuren des überstandenen Fenstersturzes waren deutlich erkennbar. Dr. Westhaus ergriff den elektrischen Bohrer und legte nacheinander mehrere Bohrlöcher in einem Viereck an.
Dann reichte ihm die OP-Schwester die feine Gigli-Säge. Mit der Hand sägte Dr. Westhaus von Bohrloch zu Bohrloch die Knochendecke durch.
»Gerda!«
Schwester Gerda sprang hinzu und wischte dem Oberarzt mit einem sterilen Tuch den Schweiß von der Stirn.
Dr. Westhaus hob das herausgesägte Knochenstück vorsichtig ab, reichte es Schwester Olga. Die OP-Schwester legte es sofort in die bereitgehaltene physiologische Kochsalzlösung.
Die Hirnhaut lag frei.
Im kleinen, mit altertümlichen Sesseln und Tischchen vollgestopften Warteraum der Klinik lief der Bäcker Bergner unruhig auf und ab, blieb vor dem Fenster stehen, trommelte mit den Fingern auf die Fensterscheibe, nahm seine Wanderung wieder auf. Auf seinem runden, geröteten Gesicht standen Schweißperlen.
Was machen sie jetzt mit ihr, fragte er sich immer wieder, was machten sie mit Angelika, seiner Kleinen …
»Setz dich endlich hin!« sagte seine Frau nervös. »Du machst einen ja ganz verrückt, mit deiner Hinundherlauferei!« Sie selbst saß auf der Kante eines hohen, unbequemen Stuhls, die Handtasche auf den Knien, den Oberkörper steif aufgerichtet.
Aber Bergner kümmerte sich nicht um sie. Er hörte nicht einmal, was sie sagte. Seine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt. Es gab kein Entrinnen vor dieser Angst, er konnte nichts tun, gar nichts. Angelika …
Die Kleine war ihr einziges Kind. Sie kam nach langen, langen Jahren vergeblichen Wartens zur Welt, als sie, Anni und er, schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, je ein Kind zu bekommen. Und sie würde ihr einziges Kind bleiben, die Kleine mit den großen Kulleraugen, sein quecksilbriges Mädchen, das jeden Morgen noch vor dem Frühstück zu ihm in die Backstube kam, um ihm zu helfen, wie sie sagte, backe, backe Kuchen, der Papi hat gerufen …
Gequält preßte er die Fäuste auf die Schläfen. »Wir hätten es nicht zulassen sollen!« sagte er heiser. »Die Anfälle waren nicht das Schlimmste. Jetzt, das ist …«
»Vielleicht könnten wir es noch … vielleicht ist es noch nicht so weit …«, sagte Frau Bergner. Ihre Lippen zitterten. Ihre Augen verfolgten unablässig den auf und ab gehenden Mann.
Er hat Angst um das Kind, dachte sie, seine Angst ist nicht kleiner als meine, Gott im Himmel, warum nur mußte ich damals aus dem Zimmer gehen! Ich war nur ein paar Sekunden draußen, die Tür war offengeblieben, und unten haben die Nachbarskinder nach Angelika gerufen … sie kletterte auf den Stuhl und beugte sich aus dem Fenster, und dann fiel sie, und unten schrien die Kinder auf, und die Leute liefen zusammen, und einer ging in den Laden und rief: »Herr Bergner — Herr Bergner, Ihre Kleine ist aus dem Fenster gefallen, schnell!«
Aber er hat mir nie ein böses Wort gesagt, dachte sie. Er ist ein guter Mann, du hättest keinen besseren bekommen können. Damals hat er mich nur angesehen, mein Gott, wie er mich angesehen hat, als er die Kleine die Treppe rauftrug, ich werde diesen Blick nie im Leben vergessen.
»Der Herr Professor hat gemeint, daß es eine ganz einfache Operation werden wird«, sagte sie leise, als wollte sie sich selbst und ihm Mut geben. »Er ist ein geschickter Mann, man hört es immer wieder. Und er operiert ja selber, er hat schon sehr viele berühmte Menschen operiert, wir müssen ihm vertrauen.«
Dr. Westhaus atmete auf, als er die Diagnose bestätigt sah: Ein etwa zwei Zentimeter langer, von der Schädeldecke gelöster Splitter hatte auf die Dura, die Gehirnhaut, gedrückt.
Er entfernte den Knochensplitter sehr behutsam, während der Assistent die offenliegende Dura unentwegt spülte. Dann untersuchte er die Gehirnhaut, Zentimeter um Zentimeter. Sie zeigte eine deutliche Druckstelle, war aber sonst unverletzt.
Dr. Westhaus warf einen fragenden Blick hinüber zu Eva.
Ihre Augen lächelten befreit über der Gesichtsmaske. »Alles in Ordnung.«
Dr. Westhaus fügte das herausgesägte Knochenstück wieder ein, klammerte es fest und schlug die Hautlappen darüber.