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Gehirnstation. Marie Louise Fischer
Читать онлайн.Название Gehirnstation
Год выпуска 0
isbn 9788711718810
Автор произведения Marie Louise Fischer
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Zorn, Scham, Wut über sich selbst ließen ihre Hände zittern. Sie wandte sich ab, damit er ihr Gesicht nicht sah. Er war ihr aber schon zuvorgekommen. Überdeutlich hörte sie Carls Schritte zur Tür, hörte sie die Tür aufgehen und dann wieder zuklappen.
Sie war allein.
Zwischen ihren Fingern liefen Tränen und hinterließen nasse Spuren auf den Handrücken. Sie mußte etwas tun, irgend etwas. Sie wußte nicht was, aber alles war besser, als dieses langsame Sichentfremden, als zuzusehen, wie er ihr langsam entglitt, immer mehr, sie mußte etwas unternehmen, schnell, sie mußte sich beeilen, damit es nicht zu spät wurde.
Oberarzt Dr. Westhaus stürmte in das Vorzimmer des Chefarztes Professor Hornstein.
»Morgen —!« grüßte er die Sekretärin, die noch nicht richtig wach hinter ihrem Schreibtisch saß und Karteikarten sortierte. »Ich muß mit dem Alten sprechen. Sofort!«
»Na, na, nur mit der Ruhe!« Die Sekretärin, Fräulein Laberger oder »Labergerin«, wie man sie nannte, sah den Oberarzt über ihre runde Brille mißmutig an. Sie konnte es sich erlauben, seit etwa dreißig Jahren saß sie bereits an diesem Schreibtisch, hatte im Laufe der Zeit recht diktatorische Eigenschaften entwickelt, und es war ein offenes Geheimnis, daß selbst der Chef sie nur mit Samthandschuhen anzufassen wagte. Doch genausogut wußte man auch, daß sie bereit war, nächtelang für »ihre« Klinik zu arbeiten, die zum einzigen Inhalt ihres Lebens geworden war.
»Er ist doch hier?« fragte der Oberarzt.
»Der Herr Professor muß gleich wieder fort«, sagte die Labergerin.
»Wohin?«
»Nach Helsinki.«
»Helsinki? Und — was ist mit Angelika?«
»Sie können ihn ja selbst fragen. Er wollte Sie sowieso sprechen. Gehen Sie nur rein.«
Das Chefzimmer war spartanisch eingerichtet. Ein alter, großer Schreibtisch, ein paar unansehnliche Sessel, ein abgetretener Teppich, ein abgewetztes Ledersofa und ein riesiger Bücherschrank, der eine ganze Wand einnahm, waren die einzigen Einrichtungsgegenstände.
Professor Hornstein hatte um diesen Raum viele Kämpfe mit seiner Frau Iris ausgefochten. Iris Hornstein vertrat die Ansicht, daß ein vornehm eingerichtetes, sehr modernes Arbeitszimmer den Patienten weit mehr imponieren würde. Aber in dem einen Punkt war Professor Hornstein nicht von seiner Meinung abzubringen: »Die Patienten kommen nicht zu mir, um mich in Glanz und Schönheit zu bewundern, sondern weil sie kuriert werden wollen. Wenn ich das nicht mehr schaffe, dann nützt auch das feudalste Chefzimmer nichts.«
Der Professor ging nervös auf und ab, als der Oberarzt eintrat.
»Gut, daß Sie gekommen sind, Westhaus«, begann er ohne Einleitung. »Muß dringend weg. Zwei, drei Tage. Vielleicht vier. Meine Maschine fliegt in zwei Stunden. In der Zwischenzeit schmeißen Sie den Laden hier. Rissanen in Helsinki braucht mich, habe gestern abend mit ihm telefoniert. Sie erinnern sich an ihn?« Er sprach abgehackt, stieß die Worte und die Sätze aus, als hätte er es sehr eilig und als wäre er außerdem nicht ganz bei der Sache.
Dr. Westhaus nickte. Wie merkwürdig der Professor geworden war. Er hätte nicht sagen können, was an dem »Alten« so anders war als früher. Es schien, als jage er plötzlich einem nur ihm bekannten Ziel entgegen, alles andere außer acht lassend, ungeduldig, unwirsch, unberechenbar …
»Es handelt sich um Nobelpreisträger Kueinen. Ein großes Tier in Helsinki — und überhaupt. Ganz dringend, sagt Rissanen, und auf sein Urteil kann man sich verlassen.« Verständliche Genugtuung schwang jetzt in seinen Worten mit. Und Dr. Westhaus konnte es verstehen: Auch er wäre stolz gewesen, hätte man ihn ans Krankenbett eines Mannes wie Kueinen gerufen.
»Ein Tumor«, sagte der Professor. »Sitzt im Stirnhirn. Rissanen meint …« Der Professor beendete den Satz nicht. Mitten im Zimmer blieb er stehen, sah einige Sekunden vor sich hin auf den Boden, drehte sich dann abrupt um, sah Dr. Westhaus an — und es schien, als würde er erst jetzt seine Anwesenheit richtig bemerken. »Also — passen Sie auf, Westhaus. Mit dem alten Schreiber auf Zimmer zwölf bin ich nicht ganz zufrieden. Es wird am besten sein, wir machen noch eine Röntgenaufnahme, damit wir’s ganz genau wissen, bevor wir seinen Schädel aufmachen. Wenn ich zurück bin, müssen wir etwas ausklügeln, bei ihm werden wir mit den alten Methoden kaum etwas erreichen. Weiter: Die kleine Frau auf Zimmer fünfundzwanzig kann nach Hause gehen — ich meine die nette, hübsche, die so gerne lacht.«
Es folgte eine Reihe von Routineanweisungen, klar, präzise, wie in den alten Tagen. Westhaus atmete auf. Hoffentlich konnte er den Chef bewegen, seine Reise um einige Stunden zu verschieben. So sagte er, als der Professor fertig war:
»Eine Sache liegt mir besonders am Herzen, Herr Professor.«
»Ja?«
»Die kleine Angelika.«
»Wird nach meiner Rückkehr operiert.« Die Stimme des Professors klang wieder barsch, endgültig. Er nahm seine ruhelose Wanderung durch das Zimmer von neuem auf, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den mächtigen, ausdrucksvollen Kopf mit dem eisgrauen, kurz geschnittenen Haar gesenkt.
Aber Westhaus ließ nicht nach.
Er hatte sich stets bemüht, dem Grundsatz gerecht zu werden, alle Patienten völlig gleich zu behandeln. Angelika war keine Ausnahme. Und dennoch geschah es hin und wieder, daß ihm ein Patient besonders am Herzen lag; Sympathie, Zuneigung, besondere Anteilnahme verstärkten noch die Fäden, die ihn an »seine« Kranken banden. Jedem Arzt geht es so.
Angelika war ein fünfjähriges, aufgewecktes, hübsches und zierliches Mädchen mit schwarzen Kulleraugen, die ungemein ausdrucksvoll blicken konnten. Seit dem ersten Tage ihres Aufenthaltes in der Klinik hatte sie alle Herzen erobert, und besonders stark hatte sie sich an ihn, den Oberarzt, angeschlossen. Immer wenn er in ihr Zimmer kam, empfing sie ihn mit vor Freude glänzenden Augen, schwatzte, lachte, fragte ihn aus.
Ihre Eltern hatten nur widerwillig die Einwilligung zu dem Eingriff gegeben, von dessen Notwendigkeit sie nach wie vor nicht überzeugt waren. Sie konnten und wollten einfach nicht glauben, daß dieses lebhafte, scheinbar kerngesunde Kind in ständiger Lebensgefahr schwebte.
Vor einigen Monaten war Angelika aus dem Fenster des elterlichen Hauses gestürzt — aus dem ersten Stock. Schädelbruch. Schon nach einigen Wochen schien sie ganz geheilt. Bis plötzlich Krampfanfälle auftraten, die große Ähnlichkeit mit epileptischen Anfällen hatten. Angelika fiel unvermittelt zu Boden, verlor das Bewußtsein, verdrehte die Augen, biß sich die Lippen und die Zunge blutig. Wenn sie aufwachte, wußte sie nicht, was mit ihr geschehen war, und sie war munter wie zuvor.
Der Hausarzt wies sie in die neuro-chirurgische Klinik von Professor Hornstein ein. Die Diagnose stand bald fest: Ein Knochenstück mußte sich bei dem Sturz aus dem Fenster gelöst haben und drückte jetzt auf das Gehirn. Davon die Anfälle. Helfen konnte nur eine Operation.
Er selbst, Oberarzt Dr. Westhaus, hatte diese Diagnose gestellt. Aber wie sehr er auch von der Dringlichkeit einer baldigen Operation überzeugt war, konnte er andererseits Angelikas Eltern verstehen. Wie die meisten Menschen, waren sie von einer fast abergläubischen Furcht vor einer Schädeloperation besessen, gegen die Vernunftgründe nichts auszurichten vermochten.
Professor Hornstein hatte ihm das einmal erklärt. »Beobachten Sie Menschen, die sich in Gefahr befinden. Jeder greift sich an den Kopf oder bedeckt ihn mit den Händen, um ihn zu schützen — selbst wenn diese Geste völlig nutzlos ist. Einmal habe ich bei einem Bombenangriff einen Mann gesehen, der mit einer Zeitung auf dem Kopf durch die Straßen lief. Das Papier schien ihm besser als nichts. Und dann kommen wir und sagen: Wir müssen deinen Kopf aufmeißeln, es hilft nichts, sonst gehen die Schmerzen nicht weg — die Schmerzen, durch die sein Kopf nur noch empfindlicher, seine Furcht größer geworden ist. Es gehört schon eine Menge Mut dazu, sich auf den Operationstisch zu legen, und vielleicht