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gewichtslos. Mitunter hatte Vater ihr bewundernde Blicke zugeworfen und sie voller Begeisterung darum gebeten, sich in ihrem schlichten Kleid um die eigene Achse zu drehen, bis sich der Tellerrock aufbauschte und um ihre schlanken Beine flatterte. Mutter lachte herzhaft, während ich auf den Moment wartete, in dem sie zu schweben beginnen würde. Wer sich so schnell drehen konnte, konnte auch fliegen, daran hatte ich geglaubt.

      Nun litt ich darunter, dass sie ihre Leichtigkeit verlor und schwerfällig wurde. Zaghaft und grüblerisch. Dass sie plötzlich nur noch mit mir sprach, wenn sie ihre Sorgen um mich äußerte, dies allerdings in einem spitzen Ton, den ich nicht von ihr kannte. An manchen Tagen kam es vor, dass sie sich gleich mehrfach nach meinem Befinden und Verbleib erkundigte, als traute sie meinen Antworten nicht. Deine Wangen sind blass, Hänschen, wirst du etwa krank? Wenn du die Schrippen holst, kehrst du doch ohne Umwege wieder zurück, nicht wahr? Warum brauchst du nur immer so lange, bis du von der Schule nach Hause kommst? Die Fragen spiegelten ihre Befürchtungen wider, noch einen geliebten Menschen zu verlieren, sollte sie nicht gut genug aufpassen. Mich irritierten ihre Sorgen, als habe sie vergessen, dass ich ein vernünftiger, wohlerzogener Junge war, der durch den Tod des Vaters und die Erkenntnis, wie abrupt ein Leben enden konnte, ohnehin vorsichtiger, beinahe ängstlich geworden war. Diese Tage waren schlimm. Aber noch schlimmer waren die Tage, an denen sie lethargisch war und sich kaum noch regte. An denen sie am Esszimmertisch saß und wie entrückt zur Tür schaute, als träumte sie davon, dass Vater jeden Augenblick über die Schwelle treten und sie mit einem Kuss aus ihrer Starre befreien würde. Wenn ich in jenen Stunden neben ihr hockte, über meinen Hausaufgaben brütete und sie um Hilfe bat, verlor sie nie mehr als drei Sätze. Und manchmal, wenn sie mir gar nicht antwortete, wusste ich nicht, ob sie mich überhaupt hörte oder ob ihr nur die Anstrengung zu groß war, sich mit mir und meinen Aufgaben zu beschäftigen. Bisweilen schaute sie mich an, als erkenne sie mich nicht mehr und begreife nicht, dass wir zusammengehörten, woraufhin ich mich rasch zurückzog, aufs Bett legte und stundenlang der Stille in unserer Wohnung lauschte. Es kam vor, dass ich mein Zimmer an einem solchen Tag gar nicht mehr verließ, die ganze Nacht wach blieb und so lange in die Schwärze hinaus sah, bis der Morgen das Fenster mit einem trüben Grauton färbte, an den ich mich nur widerwillig gewöhnte. Er bedeckte die Tage, Wochen und Monate, in denen der Krieg immer heftiger wütete, die Begräbnisse und das Wehklagen der Eltern und Frauen über ihre gefallenen Söhne und Männer zunahmen und schließlich die ersten britischen Bombenangriffe auf Berlin erfolgten. Eine Antwort auf die vielen Attacken der deutschen Luftwaffe auf mehrere englische Städte. Um sie aus der Gefahrenzone zu bringen, wurden viele meiner Mitschüler aufs Land geschickt. Ein Teil kam bei Verwandten unter, andere verbrachten die nächsten Monate in einem von der Hitlerjugend organisierten Lager in Schlesien. Das Klassenzimmer leerte sich. Ich hatte das Gefühl, zurückgelassen zu werden und wünschte mir insgeheim, mit meinen Freunden gehen zu können. Aber natürlich konnte ich Mutter nicht ohne ihre Einwilligung verlassen. Und sie wollte nicht, dass ich fortging. Als ich sie auf die Landverschickung ansprach, reagierte sie unerwartet schroff. Die Angst, dass ihr dann niemand mehr bliebe, schien übermächtig und riss sie aus ihrer Trägheit. »Einer ist schon gegangen und kam nicht zurück, das passiert mir nicht noch einmal. Wer kann mir denn garantieren, dass du auf dem Land sicherer bist als bei mir in der Stadt? Niemand kann das!« Sie sprach laut und hektisch, als hadere sie mit ihrer Entscheidung und wisse nicht recht, ob sie das Richtige tat. »Und wenn wir doch zu den Großeltern reisen? An den Rhein? Aber nein, auch dort gibt es genügend Städte und Brücken, die zu treffen es sich lohnen würde. Niemand kann wissen, wo die nächsten Bomben fallen. Gerhard würde nicht wollen, dass wir Berlin verlassen.«

      Dass die Wohnungsbaugenossenschaft gleich nach den ersten Angriffen einen Luftschutzraum in unserem Hauskeller einrichtete, bestärkte sie in ihrer Meinung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Indem sie mir erlaubte, zuzusehen, wie die Kellergänge mit leuchtender Farbe gestrichen wurden, was ein Zurechtfinden auch bei Dunkelheit ermöglichen sollte, ein Durchlass in die Kellerwand zum Nachbarhaus gebrochen, die Decke des ausgewählten Raums mit zwei Pfeilern und vertikalen Stützbalken verstärkt, das Fenster zugemauert und die Holztür durch eine Tür aus Stahl ausgetauscht wurde, wollte sie mir zeigen, wie sicher unser Zuhause war. Am Ende des Kellergangs standen von nun an mit Wasser gefüllte Löscheimer und Kisten mit Kerzen, Verbandsmaterial, Hacken, Schaufeln, Sand und Feuerpatschen, deren Anwendung uns Herr Tremmel erläuterte. Er beaufsichtigte die Arbeiten im Keller. Alles sollte ausgeführt werden, wie es die Baugenossenschaft angeordnet hatte. Die Hausbewohner würden wieder ruhiger schlafen, wenn sie wüssten, dass der Kellerraum sie vor den Bomben schützte. Schlimm genug, dass der Feind die Bevölkerung verunsicherte. Aber sich wegen ein paar Bomben gleich in Angst und Schrecken versetzen zu lassen? Niemals! Nur die Ruhe bewahren und abwarten, bis die deutsche Luftwaffe die Kampfkraft der Royal Air Force gänzlich vernichtet hatte. Das könne nicht mehr lange dauern.

      Doch Tremmel irrte. Die Kampfkraft der Royal Air Force wurde nicht zerstört. Es folgten weitere Angriffe auf Berlin, die zunächst einmal bis November 1941 andauerten und Mutter zum Handeln zwangen. Sie bereitete sich vor und packte alle wichtigen Papiere und ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer, den sie griffbereit neben ihre Schuhe unter die Garderobe stellte. Wenn nun die Alarmsirenen ertönten, die inzwischen überall an höheren Gebäuden angebracht worden waren, verdunkelte sie mit schwarzen Papierrollos und Decken die Fenster, nahm den Koffer und hastete mit mir an der Hand durch das Treppenhaus in den Keller. Im Schutzraum besaß jeder Bewohner einen von Herrn Tremmel zugewiesenen Platz auf einem der abgenutzten Sessel, die in den Keller geschleppt worden waren. Im schummrigen Licht einer einzigen Glühbirne saßen Margarethe neben Ilse und Toni, Mutter zwischen Frau Buchner und mir und Herr Tremmel uns gegenüber. An der Längsseite des Raums hatte der Blockleiter noch Stühle für die Bewohner des Nachbarhauses bereitgestellt, welche durch den großen Zugang in der Kellerwand zu uns kamen. Luise und Alfred Hartmann, ein älteres Ehepaar, das sich immer freute, wenn ich es nett grüßte, sobald wir uns vor den Häusern begegneten. Frau und Herr Schmitt mit ihren beiden Kindern, Kurt und Otto, vier und sechs Jahre alt, und Rudolf Schultze, der seinen linken Arm im ersten Weltkrieg verloren hatte, als sie dem Franzmann vor Verdun eingeheizt hatten. Eine Unachtsamkeit, eine Detonation und wumms, sein Arm sei in tausend Fetzen gerissen worden. Aber letztlich hätte er sich an den Verlust gewöhnt, der eine Arm reiche ihm inzwischen aus, hatte er Mutter vor vielen Jahren erzählt, als sie mich noch zur Schule brachte und wir Herrn Schultze auf dem Weg dorthin trafen. Wir waren spät dran gewesen, weshalb Mutter das Gespräch rasch beendete und sich für ihre Eile entschuldigte, woraufhin Herr Schultze ein wenig mürrisch wirkte. Schließlich war auch er weitergegangen, die Zeitung der Partei, den Völkischen Beobachter, eingeklemmt in seiner verbliebenen Armbeuge.

      »Unsere Nachbarn werden in unserem Haus Schutz finden. In ihrem Gebäude gibt es keinen geeigneten Raum. Und der nächste Bunker ist für sie zu weit entfernt. Das Risiko, zu spät zu kommen, vor verschlossenen Türen zu stehen und schutzlos in einen Bombenangriff zu geraten, ist zu groß für sie«, sagte der Blockleiter bei unserer ersten Zusammenkunft im neuen Luftschutzraum, ausgelöst durch ein weiteres nächtliches Sirenengeheul, das uns vor einem erneuten Angriff gewarnt hatte und mir durch Mark und Bein gegangen war.

      »Deswegen der Durchlass …«, flüsterte Frau Buchner meiner Mutter zu. »Ja, der Krieg lässt die Menschen enger zusammenrücken.«

      Mutter zog eine Braue in die Höhe.

      Frau Buchner beugte sich dichter zu ihr und legte die runzligen Hände auf ihre Beine. »Wissen Sie, was gleich passiert?«

      »Was meinen Sie?«, fragte Mutter irritiert zurück.

      »Gleich kommen die Vorausflieger, das habe ich neulich nachts gesehen. Ich habe am Fenster gestanden und beobachtet, wie diese verfluchten Flugzeuge langsam an Fallschirmen niederschwebende Leuchtbomben abwarfen, die aussahen wie Tannenbäumchen. Weiß, rot und grün leuchtende Zeichen. Unheimlich war das.«

      »Leuchtende Zeichen? Tannenbäumchen? Wozu?«

      »Ich glaube, damit markieren sie die Ziele für die Bomber, die ihnen folgen …«

      Mutter schluckte. Dann hörten wir das Feuer der Flakgeschütze in der Ferne. Die Luft im Raum wurde dicker. Meine Atemwege zogen sich zusammen. Der Geruch nach kaltem Schweiß stieg mir in die Nase. Steif saßen wir da, wie Puppen aus Porzellan.

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