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jeden Zweifel. Er hatte sich der Schneeballschlacht entzogen. Wieder einmal war er bemüht gewesen, jeder Aufmerksamkeit zu entgehen. Er wollte unauffällig verschwinden, doch zwei größere Gestalten verfolgten ihn. Mir wurde flau im Magen, als ich in ihnen die Oberschüler Erwin Kroschke und Franz Ziegler erkannte.

      Erwin stammte aus einer wohlhabenden Metzgerfamilie, die etliche Geschäfte in mehreren Berliner Bezirken betrieb und einige Straßen von uns entfernt in einem imposanten Haus inmitten eines gepflegten Parks mit verschlungenen Wegen und einem großen Fischteich lebte. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, zählten Erwins Eltern Mitglieder der obersten Parteiführung zu ihrer Kundschaft, und manch einer flüsterte, sie würden sogar die Reichskanzlei in der Wilhelmstraße mit Fleisch beliefern. Außerdem gab es unter den Kindern das Gerücht, dass der Metzgersohn nie ohne sein Schweizer Messer mit Griffschalen aus geschwärztem Eichenholz das Haus verließ. Er trüge es immer in seiner rechten Hosentasche, jederzeit bereit, anderen, vor allem jüngeren Kindern, furchtbare Angst einzujagen, indem er es vor ihnen aufklappte und mit der Klinge wild durch die Luft schnitt, als handelte es sich bei dem Messer um einen Degen. Erwin war zwei Jahre älter als ich, ein unberechenbarer Junge, dem ich möglichst aus dem Weg ging, wenn er durch die Straßen schlenderte, fortwährend auf der Suche nach einer Gelegenheit, seine Stärke und Unerbittlichkeit zu demonstrieren. Manchmal fand er sie, manchmal auch nicht.

      An diesem Tag fand er sie. Ich beobachtete, wie er und Franz losliefen, bis sie David, der die Gefahr zu spät erkannt und deshalb auch zu spät zu fliehen begonnen hatte, in Höhe eines Pritschenwagens stellten. Sie blieben vor dem Jungen stehen und bauten sich bedrohlich vor ihm auf. Inzwischen hatten sich mehrere Klassenkameraden zu mir gesellt, und als auch sie begriffen, was sich in einiger Entfernung zutrug, rannten sie in der Erwartung los, dass Erwin ein Opfer gefunden hatte und zumindest heute alle anderen in Ruhe lassen würde. Niemand wollte ein mögliches Spektakel verpassen. Ohne zu überlegen, lief ich mit.

      Im Nachhinein habe mich gefragt, was geschehen wäre, wenn wir ignoriert hätten, was am anderen Ende der Straße geschah. Ich habe mich gefragt, ob wir Erwin durch unser Erscheinen erst zum Handeln motivierten, ob er sich durch unser Auftauchen verführen ließ, wie sich ein Athlet verführen lässt, den Jubel und Applaus im Stadion zur Bestleistung tragen. Vielleicht hätte der Metzgersohn den jüdischen Jungen nur bedroht, ihn aber nicht verletzt und gedemütigt, wenn wir dem Geschehen ferngeblieben wären.

      Nachdem wir die drei Jungs erreicht hatten, bildeten wir einen Kreis um sie, ohne uns bewusst zu sein, dass wir David auf diese Weise jede Fluchtmöglichkeit raubten.

      Erwin legte den Kopf schräg, musterte sein Opfer und setzte ein breites Grinsen auf. »Ich habe gehört, du heißt David. Stimmt das? Heißt du wirklich so wie der Schafhirte, der den Riesen besiegt hat?«

      Obschon David erschrocken und ängstlich wirkte, nickte er und sagte leise: »Ja, so heiße ich …«

      »David wurde zum König gekrönt, nachdem er den Riesen getötet hatte, richtig?« Erwin kannte Davids Namen, er kannte die Geschichte von dem Schafhirten, der den Riesen besiegt hatte, und er wusste, dass dieser einst König der Israeliten gewesen war. Plötzlich verstand ich. Alle verstanden es. David schaute Erwin an, mit flehenden Augen. Lass mich in Ruhe, sagten diese Augen. Lass mich bitte in Ruhe, ich bin kein mutiger Hirte, ich bin nur ein verängstigtes Schaf auf dem Weg nach Hause …

      »Du musst stolz sein, den Namen eines Königs zu tragen«, sagte Erwin und verzog abermals den Mund zu einem herablassenden Grinsen. »Ich wäre stolz darauf.«

      »Ich … nein …«, stotterte David.

      »Nein? Du bist nicht stolz darauf? Du bist nicht stolz, einen Namen zu tragen wie ein jüdischer König? Bist du etwa auch nicht stolz darauf, ein Jude zu sein?« Erwin tat überrascht. Er schob seine Hand in die rechte Hosentasche. Ich hielt die Luft an, weil ich ahnte, was sich darin befand. »Der Riese, verflucht, wie hieß der Riese noch mal? Weißt du es noch?«

      »Goliath«, stieß David hervor. »Der Riese hieß Goliath.«

      »Goliath, richtig. Könntest du einen Riesen wie Goliath besiegen, David?« Erwin ließ nicht locker. »Ihn töten?«

      David schüttelte den Kopf. »Nein, ich könnte keinen Riesen besiegen …«

      »Und wenn ich Goliath wäre? Glaubst du, du könntest mich besiegen?«

      David schüttelte abermals den Kopf, dieses Mal noch heftiger.

      »Du bist feige, David. Dein Volk ist feige, und das ist schlecht für dich und alle Juden.« Erwin zückte das Messer und klappte es auf. Dann leckte er mit der Zunge über die scharfe Klinge. Franz lachte schallend los.

      Davids Gesicht wurde blass, auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken, und aus seinem Mund kam ein pfeifender Ton.

      Ich biss auf meine Lippen und rieb die Daumen mit den Zeigefingern, wie Mutter es tat, wenn sie dem Radiosprecher lauschte. Ich litt mit David, aber ich war voller Angst, und deshalb nicht fähig, einzugreifen. Mein Herz sandte ein Signal aus, dass ich Mut aufbringen, das Richtige tun und dem Unterlegenen beistehen sollte, aber mein Verstand wies das Herz zurück, weil Mut allein nicht ausreichen und der eigene, zu erwartende Schmerz ein Eingreifen nicht verzeihen würde. Ich war stark, aber sicher nicht stark genug, um Erwin entgegenzutreten. Also sah ich mit aufgerissenen Augen und halb offenem Mund zu und klammerte mich an dem fest, was Mutter mir eingebläut hatte: Ich hasse sie nicht, und du musst sie auch nicht hassen, aber du darfst niemandem erzählen oder durch Taten zeigen, dass wir sie nicht hassen.

      »Ich werde dir jetzt zeigen, wohin es führt, wenn man feige ist. Ich werde dir einen Judenstern in die Brust ritzen, David. Kapierst du, was ich sage? Einen verdammten Judenstern werde ich dir ins Fleisch schneiden«, verkündete Erwin mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass er es ernst meinte. Er trat einen Schritt auf sein Opfer zu.

      David wollte ausweichen und ging rückwärts, aber er stieß gegen eine Wand aus eng beieinanderstehenden Körpern. Franz schnellte vor und trat mit voller Wucht in die rechte Kniekehle des bedrängten Jungen. David stürzte zu Boden. Ein paar Jungs aus dem Kreis johlten, andere blieben stumm.

      Wie ein Raubtier stürzte sich Erwin auf den am Boden Liegenden, riss ihm die Jacke auf und zerschnitt seinen Pullover und das Unterhemd. Er setzte sich auf ihn, während Franz sich auf die Knie fallen ließ und Davids Kopf zwischen seine Oberschenkel presste. Dann griff er nach Davids Handgelenken, umschloss sie und fixierte seine Arme am Boden.

      Ich sah schreckliche Panik in den Augen des jüdischen Jungen lodern, als er bemerkte, dass er sich nicht mehr wehren konnte. Er steckte fest, eingezwängt wie in einem Schraubstock. Dennoch wollte er seine Angst nicht zeigen und sog stoßweise Luft zwischen seinen zusammengepressten Zähnen ein, aber als Erwin die Klinge auf seine linke Brust setzte und zu ritzen begann, kamen ihm die Tränen. Zunächst schluchzte er nur, doch schon bald übermannte ihn der Schmerz. Er heulte los und schrie. Es klang erbärmlich, und sogar die, die eben noch höhnisch gelacht hatten, schwiegen plötzlich. Die Lust am Zuschauen verwandelte sich in lähmendes Entsetzen.

      »Du brüllst wie ein Schwein, das mein Vater auf die Schlachtbank führt«, grölte Erwin triumphierend. Blut rann über die Schneide seines Messers. Sein feistes Gesicht, von glühender Röte überzogen, war von einschüchternder Wildheit. Er schnitt weiter, voller Entschlossenheit, sein Werk zu vollenden. Er wollte David eine bleibende Wunde zufügen, eine Verletzung, die eine wulstige Narbe hinterlassen und den Juden ein Leben lang an diese besondere Schmach erinnern sollte. »Schrei, König von Israel, ich will, dass du noch viel lauter schreist …!«

      Davids Gesicht war verschmiert von Dreck und Tränen, als Erwin sein Werk vollbracht hatte, aufstand und den blutverschmierten Stern auf Davids linker Brust und den dunklen Fleck zwischen dessen Beinen begutachtete. Zufrieden klappte er sein Messer zusammen, steckte es in die Hosentasche und bedeutete Franz, sein Opfer loszulassen und ebenfalls aufzustehen. Dann sah er jedem von uns in die Augen, prüfend, argwöhnisch. Wir erstarrten unter seinem kalten Blick.

      »Schaut ihn euch an, den nach Pisse stinkenden König der Juden. Schaut ihn euch genau an …!« In seine Stimme mischte sich Zynismus,

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