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beschwingt, energisch und siegestrunken. Franz folgte ihm wie ein Schatten. Als sie sich mir näherten, hoffte ich, dass sie mir nicht ins Gesicht blicken und meine Angst und die schlecht unterdrückte Missbilligung sehen würden. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen und wäre am liebsten im Boden versunken, vor lauter Scham und Furcht. Wie erleichtert ich doch war, als Erwin und Franz an mir vorübergingen. Und noch erleichterter war ich, als sie verschwanden. Mit federnden Schritten und hochgereckten Hälsen spazierten sie durch die Lücke des sich widerstandslos öffnenden Kreises, ohne noch etwas hinzuzufügen, als sei alles gesagt und jedes weitere Wort zu viel.

      Ich war wütend, ich war aufgebracht, ich fühlte mich von der eigenen Mutlosigkeit gebrandmarkt und wollte nur schnell nach Hause. Leise stahl ich mich davon, passierte den Pritschenwagen, überquerte die Straße, fing an zu laufen, stolperte, fiel auf den schneebedeckten Asphalt, stand wieder auf und lief weiter. Mein Ranzen war schwer, ich spürte sein Gewicht auf meinem Rücken, so wie ich das Gewicht der Schuld auf meinen Schultern spürte. Ich versuchte, das Bild von Davids Angst aus meinem Kopf zu bekommen, seine vor Schrecken geweiteten Augen, seine Schreie und die blutende Wunde auf seiner Brust. Aber es gelang mir nicht. Genauso wenig gelang es mir, meine eigene Furcht vor Erwin Kroschke einzudämmen. Ich hoffte inbrünstig, nie wieder seinen Weg zu kreuzen.

      Am nächsten Morgen erlebte ich eine Überraschung. David Bloch saß wieder in unserem Klassenzimmer. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte geglaubt, dass er nicht wiederkommen oder dem Unterricht zumindest für ein paar Tage fernbleiben würde. Bis der Schrecken ein wenig von seiner Kraft eingebüßt hatte. Aber David war gekommen, er saß an seinem Platz, zwei Reihen vor mir. Und weil ich nicht anders konnte, beobachtete ich ihn fortwährend, unauffällig und tatenlos wie am Vortag. Dabei hätte ich die wenigen Gelegenheiten in den Pausen nutzen sollen, hätte ihn ansprechen und sagen müssen, was in einer solchen Situation zu sagen war. Dass es mir leidtue, was geschehen sei. Dass meine Nichteinmischung keineswegs an ihm gelegen habe, vielmehr sei ich an meiner eigenen Angst gescheitert. Dass ich etwas für ihn tun wolle, wenn er mich um etwas bitte. Doch ich konnte mich nicht überwinden, brachte die Worte einfach nicht über meine Lippen und beschränkte mich aufs bloße Starren, wobei ich bemerkte, wie fahl David war, wie glanzlos seine Augen blickten, wie in sich gekehrt er dasaß, noch in sich gekehrter als sonst, und wie leblos er wirkte, als wäre etwas in ihm gestorben. Als hätte Erwin Kroschke nicht nur ein blutiges Mal in seine Brust geschnitzt, sondern ihm auch noch den letzten Rest von Lebenslust geraubt. Und erneut spürte ich die Last der Scham, denn ich wusste, dass ich diesen Raub durch meine Untätigkeit gebilligt hatte.

      4

       1. September 1939 – 31. Dezember 1942

      »Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.«

      Adolf Hitlers Worte.

      »Jeder Krieg bringt Verluste mit sich.«

      Vaters Worte.

      »Es wird alles gut, Hänschen, es wird sich alles finden.«

      Mutters Worte.

      Ich saß am Esszimmertisch und beschäftigte mich mit meinen Hausaufgaben, als Mutter plötzlich beteuerte, alles werde gut. Sie stand mit dem Rücken zu mir und starrte ohne jede Regung durch das Fenster hinaus auf die Straße. Ihre aufrechte Körperhaltung drückte das Bemühen aus, stark zu sein. So verharrte sie eine ganze Weile, bis sie plötzlich zu nicken begann. Sie nickte und nickte, und ich bangte schon, sie würde nicht mehr damit aufhören.

      »Ja, alles wird gut. Alles! Davon bin ich überzeugt. Es kann gar nicht anders sein.« Ihre Stimme wirkte unerwartet kräftig. Schließlich klatschte sie in die Hände und drehte sich zu mir um. »Ich werde kochen, Hänschen. Es juckt mir in den Fingern, etwas zu kochen. Speckbohnen mit Kartoffeln wären richtig, nicht? Dein Vater mag Speckbohnen.«

      »Ja, Speckbohnen wären gut …«, erwiderte ich überrascht. Es war früher Nachmittag, nicht die rechte Zeit für eine warme Mahlzeit. Wir aßen doch immer erst am Abend. Großen Hunger verspürte ich jedenfalls noch nicht, aber das gab ich nicht zu.

      »Fein, ich freue mich, wenn du dich freust«, sagte Mutter. Sie eilte in die Küche, wo sie eine Schürze umband und sich bückte, um zwei Töpfe aus dem Unterschrank zu nehmen. Wie zielstrebig sie auf einmal war, wie flink, wie lebendig! Nichts schien sie beirren zu können. Sie nahm die Kartoffeln aus dem Vorratsschrank hinter der Tür, schälte sie, warf sie in einen der Töpfe, den sie zuvor mit Wasser gefüllt hatte, und putzte mit der ihr eigenen Gründlichkeit die Bohnen. Mit heller Stimme fing sie zu singen an, ein Lied aus ihrer rheinischen Heimat; ich kannte es aus früheren Tagen, als sie es mir vorsang, wenn sie mich zu Bett brachte. Den Text hatte ich nie vergessen.

      »Steh’ ich an meinem Fensterlein, schau in die stille Nacht hinein, den ich gesehen hab’ so gerne, der zog von mir in weite Ferne …« Sie ging zum Vorratsschrank, um noch mehr Kartoffeln zu holen. Ihr federleichter Gang kontrastrierte auf groteske Weise mit dem schwermütigen Liedtext, ihr weiter Rock schwang bei jedem Schritt, ihre Absätze polterten laut. Sie wirkte wie beflügelt. »Weit entfernt in’s fremde Land, der mir so viel Leiden gab; Leiden gab er mir sehr viel, und mein Herz schweigt nimmer still …«

      Ich mochte das Lied, die Sehnsucht in Mutters Stimme, die wehmütige Melodie darin. Aber heute war ich irritiert. Etwas an Mutters Verhalten erschien mir unermesslich falsch. Ich wollte ihr nicht länger zuschauen und zuhören. Noch war ich mit meinen Aufgaben nicht fertig. Also beeilte ich mich. Obwohl es mir schwerfiel, mich zu konzentrieren, erledigte ich meine Pflichten, bis ich mit den Ergebnissen zufrieden war. Danach packte ich die Schulsachen in den Ranzen und huschte an Mutter vorbei, ohne dass sie es bemerkte. Sie war mit den Gedanken ganz woanders. Kochte und sang noch immer voller Leidenschaft.

      In meinem Zimmer setzte ich mich aufs Bett, neigte den Kopf und faltete die Hände zum Gebet. Zunächst zauderte ich, als gäbe das Zaudern meinem Anliegen eine noch größere Bedeutung, aber nach einigen Minuten brach es aus mir heraus, und ich betete voller Inbrunst, Polen möge geschwind besiegt und der Feldzug in Kürze beendet sein. Betete, Mutters Hoffen möge den Weg in Gottes Herz finden und der Vater schon bald heimkehren. Ich betete so lange, bis der Geruch nach gekochten Bohnen und Kartoffeln in mein Zimmer zog und Mutter mich zum Essen rief.

      Dass Mutter schon am Nachmittag statt am Abend kochte, blieb eine Ausnahme und war einzig der Nachricht von den beginnenden Kriegshandlungen geschuldet, die sie mehr verstörte, als sie es mir gegenüber zugeben wollte. In den nächsten Tagen und Wochen vermied sie es jedoch wieder, die Abläufe unseres Alltags zu verändern. Sie suchte und fand Zuversicht im Üblichen, hielt die Wohnung mit der gewohnten Sorgfalt sauber, schrubbte wie immer täglich die Böden und staubte die Möbel mit jenem Pflichteifer ab, den ich schon früher als übertrieben empfunden hatte. Sie änderte auch nichts an dem zweitägigen Rhythmus, in dem sie unsere Kleidung wusch oder an der Gepflogenheit, mir jeden Morgen ein Butterbrot zu streichen und ein Glas Milch einzugießen, damit ich nicht mit leerem Magen zur Schule ging. Sie war es auch, die stets von mir forderte, meine Hausaufgaben verantwortungsbewusst zu erledigen und die Heimabende der Pimpfe zu besuchen, an denen wir zu exerzieren lernten und Kenntnisse über die deutsche Geschichte und Rassenlehre vermittelt bekamen. An einem Wochenende fuhr ich mit der Gruppe zu einem Jugendtreffen in ein Waldstück nahe Potsdam, um an einer Geländeübung teilzunehmen. Dort wurde uns beigebracht, wie man mit einem Luftdruckgewehr schoss, mit dem Kompass umging und Befehle befolgte, ohne deren Sinn zu hinterfragen. Wer es dennoch tat, tat es im Stillen.

      In dieser Zeit sinnierte ich häufig darüber, wo Vater jetzt war und welche Aufgaben er zu erfüllen hatte. Ich malte mir aus, welche Gefahren ihn bedrohten, wie er sich ihnen stellte oder ihnen entkam. In meiner Fantasie sah ich ihn mit seinen Kameraden in geordneten Reihen durch niedergebrannte Städte und Dörfer marschieren, die steinernen Trümmerwüsten glichen; er war aufmerksam und bereit, jeden gegnerischen Angriff mit seinem Gewehr zu beantworten. Andere Male sah ich ihn über ein Schlachtfeld laufen und den Geschossen der polnischen Artillerie ausweichen. Oder ich stellte mir vor,

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