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Vorstellung ich mich hingab, stets spürte ich die Angst, die mit Eiseskälte in meinem Körper aufstieg.

      Als der Postbote endlich einen Brief von Vater brachte, lief ich zu Mutter, aufgeregt und in freudiger Erwartung. Sie rutschte noch im Flur mit dem Rücken an der Wand hinab, öffnete den Umschlag, und wie es ihre Art vorzulesen war, hielt sie den Brief dicht vor die Augen, während ihre Finger über die Schriftzeichen glitten, als wollten sie jeden Buchstaben nachzeichnen. Sie hastete über die Zeilen, blieb an der einen oder anderen Stelle hängen und wurde dann wieder schneller, um voranzukommen und auch noch die letzte Information vor sich hin zu flüstern. Was Vater schrieb, machte uns glücklich. Er betonte, er sei wohlauf und wünsche sich von Herzen, dass es auch uns gut ergehe. Wo er war und was er machte, durfte er uns nicht mitteilen, aber das dämpfte unsere Freude nicht. Er lebte und klang hoffnungsvoll, daran hielten wir uns fest. Den Brief legte Mutter in die oberste Schublade seines Sekretärs, den er noch im vergangenen Sommer selbst restauriert hatte. Und weil uns in den nächsten Tagen keine Post mehr von ihm erreichte, holte sie das wertvolle Papier immer wieder hervor, wenn ihr danach zumute war, es erneut zu lesen. Einmal fand ich sie am Morgen in der Küche stehend, Vaters Brief in beiden Händen haltend und darin versunken, als erkenne sie in den akkurat und in schwarzer Tinte verfassten Zeilen einen neuen Sinn, der ihr zuvor entgangen war.

      Wie sehr sie doch auf neue Post von ihm hoffte! Und wie schwer ihr Herz wurde, als ihr Wunsch jeden Tag aufs Neue unerfüllt blieb.

      Ich entsinne mich noch mit einer Klarheit an jenen Mittag, an dem ich von seinem Tod erfuhr, als wäre es erst gestern gewesen. Es war der 21. September 1939, ein gewöhnlicher Donnerstag, an dem ich, vom Unterricht und dem übertriebenen Drill unseres Sportlehrers erschöpft, nach Hause kam. Das Hemd klebte an meinem verschwitzten Rücken, der raue Stoff der Jacke rieb in meinem Nacken. Ich fühlte mich unbehaglich. Im dämmrigen Treppenhaus mit den schmutziggrauen Wänden und den abgenutzten Dielen war es bereits kühl, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich der Sommer zu verabschieden drohte.

      Ich schloss die Wohnungstür auf und trat ein. Aber nicht Mutter empfing mich im Flur, sondern Herr Tremmel. Dass er die offizielle Uniform des Blockleiters trug, mit etlichen Ordensschlaufen auf der Brust, vergoldeten Knöpfen, auf denen der Hoheitsadler der Partei prangte, und einer Hakenkreuz-Binde am Arm, machte mich genauso misstrauisch wie sein Erscheinen in unserer Wohnung. Vater bezeichnete ihn gerne als Schnüffelhund oder Treppenterrier, der nur dann auftauchte, wenn er den Verdacht hegte, dass etwas nicht stimmte.

      Ich fragte mich, in welchen Verdacht wir geraten waren. Kontrollierte Herr Tremmel etwa, ob wir auch eine Hakenkreuzfahne besaßen? Welches Rundfunkgerät sich in unserer Wohnung befand?

      Mein Hals wurde eng, als er mich mit finsterer Miene ansah, bevor er ein entschlossenes »Heil Hitler« herausbrachte.

      Ich erwiderte den Gruß mit wenig Enthusiasmus. Meine Kehle schnürte sich weiter zu. Ich hatte Angst, sagte mir aber, ich müsse mich nicht ängstigen.

      »Tritt ein, Hans! Wir haben auf dich gewartet. Deine Mutter muss dir was sagen.« Herr Tremmel machte Platz, und ich schlüpfte in die Wohnung. Jacken und Mäntel hingen wie üblich an der Garderobe. Mutters Hüte lagen auf der hölzernen Ablage darüber. Die Schuhe standen aufgereiht im Flur. Alles war wie immer. Was um Himmels willen wollte Tremmel also von uns?

      Ich schaute mich um, sah Mutter im Esszimmer am Tisch sitzen und erschrak. Helles Tageslicht fiel durch das Fenster auf ihr blasses Gesicht mit den geröteten Augen. Auf ihrer tränennassen Wange klebten zwei Locken, ihre Zähne hatten sich in der Unterlippe verbissen, und ihr Kinn zitterte. Sie hielt ein weißes Tuch in den Händen. Nichts erinnerte mehr an den Optimismus, der all ihr Tun in den letzten Wochen geprägt hatte. In ihren Zügen erkannte ich nur noch tiefe Traurigkeit und Ermattung.

      Ich blieb stehen. Mutter starrte auf die Tischplatte, statt mich anzusehen.

      »Mutter?«, sagte ich, erfüllt vom Wunsch, dass sich ihre Gesichtszüge erhellten, dass sie mich zu sich winkte und wie so oft in den letzten Tagen erklärte, ich solle mir keine Sorgen machen, alles würde sich finden.

      »Mutter?«

      Sie stöhnte. Ihre Zähne lösten sich von der Unterlippe. »Hänschen … o mein Hänschen …«, flüsterte sie. »Dein Vater … dein Vater …«

      Der Boden unter mir gab nach, ich schwankte und ließ die Tasche los, die ich die ganze Zeit festgehalten hatte. »Was ist mit ihm, Mutter? Was ist mit Vater? Geht es ihm nicht gut?«, fragte ich erschrocken.

      »Dein Vater …« Sie stockte, rang nach Luft und drohte, in sich zusammenzusacken. Und dann, nach einem scharfen Atemholen, brachte sie es heraus: »Hänschen, dein Vater ist gefallen …«

      Ich starrte sie an. Ungläubig. Von einem einzigen Satz getroffen wie von einer Kugel. Dieser Augenblick kam mir so unwirklich vor, dass ich wie gelähmt war, die Zeit stand für die Dauer eines endlos wirkenden Herzschlages still. »Vater ist … tot?«

      Mutter hielt sich das Tuch vor den Mund und schluchzte auf, ein würgender Laut, der voller Leid war, eine Dissonanz, die in meinen Ohren dröhnte.

      Ich schüttelte den Kopf. Mir wurde übel. Ich öffnete den Mund. Schrie ohne Ton und weinte lautlos, ohne Wimmern, während sich das Bild von Mutter verdoppelte, dann vervielfältigte, bevor es endgültig verschwamm. Eine Zeitlang vermochten weder sie noch Herr Tremmel oder ich etwas zu sagen. Erklärungen waren in diesem Moment nicht möglich und überflüssig. Die Welt erstarrte.

      Es war Mutters Stimme, welche die Stille zerriss, irgendwann und irgendwo im zähen Nebel, schrill, fast hysterisch und sich vergewissernd. »Hänschen, hast du mich verstanden? Hänschen, hörst du mich?«

      Ich konnte nicht antworten.

      »Dein Vater ist gefallen. Er ist tot. Tot. Tot. Verstehst du denn nicht? Er kommt nie wieder. Nie wieder kommt er zurück zu uns …! Mein Hänschen, sag doch was …« Da war so viel Leid in ihrer Stimme, zu viel Leid.

      Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Herr Tremmel. Auch er fing wieder zu reden an, doch seine Parolen drangen wie aus einem anderen Raum zu mir, dumpf, fern. Er sprach von meinem Vater als heroischem Krieger, der an der Bzura nahe der Stadt Kutno gekämpft habe, wo sich die polnischen Armeen Poznan und Pomorze vereint hatten, um unsere Achte Armee unter General Johannes Blaskowitz zu überraschen. Aber mit Hilfe der Vierten und der Zehnten Armee sei es gelungen, die Polen einzukreisen und vernichtend zu schlagen. Viele polnische Soldaten seien in dieser entscheidenden Schlacht getötet worden, viele von ihnen seien nun in Gefangenschaft. Auf unserer Seite habe es nur wenige Verluste gegeben.

      Jeder Krieg bringt Verluste mit sich.

      Herr Tremmel tätschelte meine Schulter. Ich schüttelte seine Hand ab. Er redete weiter, bezeichnete meinen Vater immer wieder als tapferen Soldaten und einen Mann der Tat. Hier, in unserem Esszimmer, galt dem Blockleiter offensichtlich nichts mehr als die eigene Erregung und Auffassung, auf die deutschen Soldaten stolz sein zu müssen, auch oder besonders auf die Gefallenen im Feld. Unsere Verzweiflung war für ihn nur der Nachhall großen Heldentums. Dafür hasste ich ihn. Und ich hasste ihn, weil er von meinem Vater sprach, als hätte er keinen Namen und mit dem Tragen der Uniform das Recht verwirkt, über das eigene Handeln, das eigene Leben zu entscheiden. Als hätte Vater der Gedanke gefallen, für das Reich zu sterben. Ich zeigte meine Verachtung, indem ich Herrn Tremmel ignorierte und dadurch zum Verstummen brachte. Als ihm das neuerliche Schweigen im Raum unerträglich wurde, verabschiedete er sich mit belanglosen Sätzen und verließ die Wohnung ohne den üblichen Gruß.

      Nach einer Weile fragte ich Mutter, was wir nun tun sollten. Ich war ratlos und benommen von der Größe dessen, was geschehen war und noch geschehen würde. Das Entsetzen schnürte mir die Kehle zu. Mutter rührte sich nicht. Ich wollte, dass sie mit Stärke antwortete. Dass sie mich in ihre Arme nahm und wiegte und mir die Haare aus der Stirn wischte. Dass sie wie ein Fels war, mein Fels.

      Doch sie tat nichts und war nichts.

      Wieso tat sie nichts? Und warum war sie nichts?

      Meine Arme und Beine wurden schwer. Auf einmal konnte ich mich nicht mehr halten und verlor das Gleichgewicht.

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