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mich an ihn, heulte voller Schmerz und forderte von ihr, etwas zu sagen, irgendetwas, das wiedergutmachen und heilen sollte, was zerstört und nicht mehr heilbar war. Ich spürte ihren Atem auf meiner Haut. Vater atmete nicht mehr. Er würde nie mehr atmen! Erst nach einer Weile reagierte Mutter und umklammerte mich so fest, wie sie konnte. Ihre Tränen vermischten sich mit meinen.

      So blieben wir liegen, stundenlang, darum bemüht, die Erkenntnis über den schrecklichen Verlust einfach zu verdrängen und die Wirklichkeit von uns fernzuhalten.

      Es war ein sinnloses Bemühen.

      Regen klopfte unablässig auf Vaters Sarg. Ich stand neben dem aufgeschütteten Erdhaufen vor der Grube und hielt Mutters Hand, folgte aber nicht ihrem Blick ins Grab, sondern sah in die Ferne, zu den Ahornbäumen am Rand des Friedhofs, deren Kronen bereits ihr sattes Grün verloren und ein zartes Goldgelb angenommen hatten. Unter den Bäumen wirbelten Winde die herabgefallenen Blätter von moosigen Pfaden empor und trugen sie wie mit Zauberhänden über die Dornengebüsche in den Park hinter der Begräbnisstätte. Mit schwerem Herzen sog ich tief die Luft ein, die bereits eine erste Ahnung von bitterer Kälte mit sich trug. In wenigen Wochen würden die Gräber, Hecken und Bäume unter einer weißen Frostschicht erstarren. Der Gedanke, dass weder das Wetter, die Jahreszeiten noch das Leben selbst innehielten, obwohl Vater gestorben war, verunsicherte mich. Mir wurde klar, dass auch mein eigenes Leben weitergehen würde, egal, auf welche Weise.

      Als die Trauergäste nacheinander mit einer kleinen Schaufel Erde vom Haufen nahmen, ins Grab schütteten und stille Andacht vor der Stätte hielten, befürchtete ich, die Beerdigung würde noch ewig dauern. So viele waren gekommen, um uns ihr Beileid auszudrücken. Freunde meiner Eltern, Hausbewohner, Nachbarn, einige Parteifunktionäre und Rolf Kistner, der Inhaber der kleinen Schreinerei in unserem Hinterhof. Sogar Erwin Kroschke, dessen Blicken ich geflissentlich auswich, und seine Eltern hatten sich auf den Weg gemacht, um meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Genauso wie meine Großeltern vom Rhein, die vergeblich versuchten, Mutter zu überreden, wieder mit ihnen zu kommen.

      »Du hast doch hier niemanden mehr, Lenie, nicht nur Gerhard ist gefallen, auch seine Eltern sind schon lange tot. Also, was willst du mit deinem Jungen in einer Stadt wie Berlin? Hier ist es anonym und kalt. Kommt mit uns, bei uns habt ihr es besser«, sagte Großvater ernst und fügte hinzu, es sei ein Fehler gewesen, dass Mutter in die Ferne gegangen war, nachdem sie Vater in den Goldenen Zwanzigern in Berlin kennen- und lieben gelernt hatte. Großvater bereute es schon längst, seine Tochter damals mitgenommen zu haben, um mit ihr die erste Grüne Woche in der Reichshauptstadt zu besuchen. Aber nun sollte sie ihren Fehler korrigieren und in den Schoß des elterlichen Hofs zurückkehren. Um heimatliche Gefühle in ihr zu wecken, beschrieb mir Großvater in ihrem Beisein, wie sich das landwirtschaftliche Gut im Schutz der steil aufragenden Felsabhänge des Rheinischen Schiefergebirges rund um ein historisches Bauernhaus erstreckte. Wie sich der große Fluss durch die Täler wand, vorbei am großelterlichen Anwesen, an Obstgärten, abschüssigen Weinbergen und Burgen, malerischen Dörfern mit gemütlichen Wirtschaften und Städten mit liebenswerten Menschen darin. Von dort käme Mutter und dort gehöre sie auch hin.

      Aber Mutter wollte nicht zurück. »Der Hof ist schon lange nicht mehr meine Heimat. Mein Junge und ich bleiben in Berlin. Hier war Gerhard zu Hause, hier sind wir zu Hause. Du vergeudest deine Zeit mit unnützen Reden, Vater. Ich werde nie wieder an den Rhein zurückkehren«, betonte sie trotzig. Auch wenn es ihr schwerfiel, Großvaters Wunsch auszuschlagen, blieb sie standhaft. Als sie sah, wie verletzt er von ihrer Unnachgiebigkeit war, legte sie beide Arme um seinen Nacken und schaute ihn um Verständnis bittend an. »Ich muss mich doch um Gerhards Grab kümmern, Vater. Wer sollte es denn sonst tun? Und was würde aus Hänschen, wenn er seine Heimat verlöre? Der Junge vermisst seinen Vater, das ist schon genug für ihn. Mehr kann er nicht verkraften«, sagte sie sanft und fügte noch hinzu, dass sich Großvater keine Sorgen machen müsse, da uns die Kriegsrente eine ausreichende materielle Sicherheit bot.

      Ich wurde nicht gefragt. Ich sagte aber auch nichts und hätte nichts gesagt, wenn ich gefragt worden wäre. Ich konnte doch nicht wissen, was gut für mich war. Schließlich war ich erst elf. Nach ein paar Tagen reisten meine Großeltern ohne uns ab.

      In den Wochen nach Vaters Beerdigung suchte Mutter Trost in meiner Nähe, als betäubte meine Gegenwart ihren Schmerz. Mir kam der Gedanke, dass sie etwas von Vater in mir sah und fühlte, wenn sie mich anschaute oder berührte. In dieser Zeit setzte sie alles daran, nicht völlig aus der Balance zu geraten. Zu sehen, wie sehr sie sich anstrengte, ihren Kummer niederzukämpfen und die Stunden und Tage in eine Gleichmäßigkeit zu gießen, als sei nichts Schlimmes geschehen, war für mich nur schwer zu ertragen. Ständig war sie in Bewegung. Putzte, kochte und verließ gelegentlich das Haus, um mit den zugeteilten Lebensmittelkarten Fleisch, Käse, Butter, Milch und Zucker zu besorgen. Und Marmelade. Ich liebte Marmelade. Erst später begriff ich, dass sie in Bewegung bleiben wollte, um nicht ständig nachdenken zu müssen. Sie ruhte sich erst aus, wenn ich abends nicht einschlafen konnte. Dann kam sie zu mir und blieb so lange auf meiner Bettkante sitzen, bis sie davon überzeugt war, dass ich endlich Schlaf gefunden hatte. Ihre Lippen waren schmal geworden, tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn gegraben, sie wirkte hohlwangig und bleicher denn je. Einmal, als ich mich minutenlang in meinem Bett hin und her wälzte, sagte sie: »Frag ruhig, Hänschen. Frag ruhig!« Ich schaute sie erstaunt an. War ich derart durchschaubar für sie? Schließlich nickte ich und fragte, wie sehr sie Vater vermisse und wie sehr es ihr weh tue, dass er nie wiederkommen würde. Aber welche Antwort erhoffte ich mir? Glaubte ich denn ernsthaft, dass sie Vaters Tod schon überwunden hatte? Und das, obwohl ich doch hörte, wie sie nachts von Unruhe gepeinigt die Wohnung verließ, wenn sie glaubte, dass ich schlief. Ich meinte, sie spazierte durch die frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Aber ich irrte mich. Irgendwann später erzählte sie mir, dass sie in diesen Nächten mit der Straßenbahn zum Friedhof fuhr, weil sie einfach nicht aufhören konnte, darüber zu sinnieren, warum Vater nun an einem Platz lag, der keinen gesunden, vor Kraft strotzenden Mann wie ihn hätte aufnehmen dürfen. Wieso er nicht besser aufgepasst hatte. Weshalb er nicht rechtzeitig geschossen und den Feind getötet hatte, bevor dieser ihn tötete. Wie sie mit ihren Zukunftssorgen und ihrer Einsamkeit fertigwerden sollte. Darüber musste sie mit Vater reden. Deshalb besuchte sie ihn. Und weil sie sich nach seiner Nähe sehnte. Stundenlang stand sie im schwachen Schein der Friedhofslaternen an seinem Grab und erzählte ihm allerhand von unserem Leben, ohne Antworten zu erhalten. Manchmal nahm sie ein Tuch aus ihrer Manteltasche, wischte Schmutz und Nässe vom Grabstein und tastete mit den Fingern den Schriftzug seines Namens und die Ziffern seines Geburts- und Todesdatums ab. Sie konnte sich kaum von diesem Ort lösen. Erst wenn ihr Kälte und Feuchtigkeit in die Glieder krochen, der Morgen zu grauen begann und sie sich an mich erinnerte, machte sie sich wieder auf den Heimweg. Und jetzt wollte ich wissen, wie sehr ihr Vater fehlte! Mit einer leichten Bewegung, die ich eher ahnte als spürte, strich sie mir über die Stirn, die Brauen und die Wangen, bevor sie mir eine Antwort ins Ohr flüsterte, die ich bis heute nicht vergessen habe. »Ich fühle mich wie ein Mensch, der unheilbar krank ist, Hänschen. Dieser Mensch weiß, dass er mit seiner Krankheit leben muss. Manchmal quält ihn der Gedanke nur, aber manchmal verzweifelt er geradezu daran. Dennoch kämpft er gegen die Qual und die Verzweiflung an und gibt sich alle Mühe, die Krankheit als Teil seines Lebens zu akzeptieren, da er weiß, dass ihm nichts anderes übrig bleibt. Auch ich versuche, gegen die Qual und die Verzweiflung anzukämpfen, Hänschen. Verstehst du? Ich versuche, stark zu sein. Weil es einen Grund dafür gibt. Und dieser Grund bist du. Denn du bist hier bei mir.« Sie zog die Knie vor die Brust und umschlang sie wie ein kleines Mädchen. Tränen funkelten in ihren Augen. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie weinte. Das wusste sie. Ich drückte mein Gesicht ins Kissen. Sie stand auf. Ich hörte, wie sie mit kleinen Schritten aus dem Zimmer ging. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und wiederholte den letzten Satz, leise und liebevoll: »Denn du bist hier bei mir.«

      Viele Wochen nach Vaters Beerdigung begann der Abschnitt, den ich nach all den Jahren als Mutters zweite Trauerphase bezeichne. Sie veränderte ihr Verhalten und entfernte sich zunehmend von dem, was sie einst ausgemacht hatte. Ständig gegen die Qual und die Verzweiflung anzukämpfen, ließ ihre Kräfte schwinden. Sie ging nur noch vor die Tür, um Lebensmittel zu besorgen. Auch nachts verließ sie die Wohnung nicht mehr. Ihre schnellen Bewegungen erlahmten. Früher hatte ich ihre

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