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Isabel, da bist du! Ich habe dich im Bett vermutet. Es geht dir also besser. Du bist auferstanden von den Toten!«, versuchte er zu scherzen und stellte eine Tüte mit Einkäufen auf den Tisch.

      Isabel hob den Kopf und lächelte ihm zu: »Ja, lieber Thomas, nicht aufgefahren in den Himmel – noch nicht.«

      Dann schnippelte sie weiter, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun. Thomas setzte sich ihr gegenüber und überlegte, wie er ein Gespräch beginnen sollte, damit sich Isabel ihm endlich öffnete. Seit dem Unglück mit ihren Kollegen hatte sie Tag und Nacht apathisch im Bett verbracht. Für ihn war es nicht neu, dass Isabel gelegentlich bei ihrer Freundin übernachtete. Ungewöhnlich war allerdings, dass Lena sie am nächsten Tag heimgebracht hatte, und das in einem Zustand, der ihn ahnen ließ, dass sie Schreckliches durchgemacht haben musste. Bisher war Isabel kaum ansprechbar gewesen. Mehr als das, was er den Medien entnehmen konnte, hatte Thomas aus ihr nicht herausbekommen. Nun schaute er ihren geübten Handgriffen zu und fragte: »Isabel, ich habe mir echt Sorgen gemacht um dich. Möchtest du mir nicht endlich sagen, was passiert ist?«

      Isabel legte das Messer beiseite: »Bitte nicht jetzt, Thomas. Ich brauche Zeit. Es geht auch schon wieder.« Um seinem Blick nicht länger standhalten zu müssen, arbeitete sie nach einer kurzen Pause eifrig weiter und streifte das Gemüse in eine Schüssel.

      »Dein Rucksack steht im Flur. Du warst außer Haus?«, fragte Thomas weiter.

      Isabel nickte.

      »Warst du bei deiner Ärztin?«

      Isabel schüttelte den Kopf.

      Thomas fasste an seine Brille. Wie konnte er sie nur aus der Reserve locken? Er fragte: »Denkst du, du kannst bald wieder zur Arbeit gehen?«

      Isabel zuckte mit den Schultern.

      Thomas ließ nicht locker: »Isabel, bitte. Was ist los mit dir? Du willst es mir nicht sagen, habe ich recht?«, bohrte er weiter.

      Isabel überlegte. Würde Thomas sie verstehen können, wenn sie ihm alles beichtete? Alles, auch die Affäre mit ihrem Chef? Wie würde er reagieren? Würde er ausflippen und toben? Wohl kaum. Schreien oder weinen? Schon eher. Nein, das könnte sie im Moment nicht ertragen. Sie entschloss sich, Thomas nun direkt anzusehen, und sagte: »Thomas, ich fühle mich noch nicht stark genug, um da­rüber zu reden. Und ich will dich auch nicht noch mehr belasten, nicht jetzt. Bitte versteh mich.«

      Thomas hielt ihrem Blick stand. Er mochte ihre rehbraunen Augen, und das Flackern darin war ihm nicht entgangen. Erneut rückte er seine Brille zurecht und seufzte: »Ja nun, verstehen kann ich es zwar nicht, Isabel, aber ich muss es wohl akzeptieren.«

      Damit stand er auf, nahm Brot, Käse, Roastbeef und die Sachen, die er sonst eingekauft hatte, aus der Tasche und stellte sie in den Kühlschrank. Dann drehte er sich wieder Isabel zu, die schweigend weitergeschnippelt hatte, und sagte: »Es ist schon ein großer Fortschritt, dass du wenigstens das Bett verlassen konntest. Wenn ich es geahnt hätte, hätte ich nicht schon in der Mensa gegessen.«

      Da war sie wieder, diese Kühle in Thomas’ Benehmen und in seinen Worten, die Isabels Herz wie einen Eispanzer umschloss. Sie legte das Messer beiseite und sagte: »Du hättest ja auch mal etwas für mich kochen können – eine Kleinigkeit, einen Salat, eine Suppe oder so etwas. Auf die Idee kommst du wohl nicht?« Kaum waren die Worte über ihre Lippen gekommen, taten sie Isabel auch schon leid. Sie wusste, sie verhielt sich Thomas gegenüber ungerecht. Schließlich hatte er sie in den Tagen, als es ihr schlecht ging, liebevoll umsorgt. Er hatte ihr Getränke und kühlende Tücher ans Bett gebracht. Wonach sie sich am meisten gesehnt hatte, nämlich, dass er sie in den Arm genommen hätte, das hatte er nicht versucht. Nicht ein einziges Mal. Obwohl: Hätte sie seine Berührung überhaupt zulassen können? Hätte sie ihn von sich geschoben? Das fragte sich Isabel jetzt. Mit den Antworten war sie sich selbst nicht sicher. Warum war sie innerlich so zerrissen? Warum waren ihre Gefühle für ihn so widersprüchlich? Warum war alles so kompliziert geworden? Warum konnte sie sich einfach nicht mehr richtig wohlfühlen in seiner Gegenwart? Was hatte sie für Carl empfänglich gemacht?

      Sie rückte ihren Stuhl zurück, stand auf und flüsterte: »Entschuldige bitte. Hab’s nicht so gemeint.« Sie hob ihre Hände und wollte Thomas umarmen. Doch er schob sie von sich und sah sie verständnislos an. Ihre Reaktion hatte ihn verletzt, und er zerbrach sich den Kopf, was er gerade falsch gemacht hatte. Schließlich seufzte er: »Ja nun, ich konnte nicht ahnen, dass es dir heute besser geht. Die letzten Tage wolltest du nichts und hast jegliche Nahrung verweigert.« Mit diesen Worten griff er nach einer Flasche Wasser, fügte hinzu: »Jedenfalls tut es gut, dich hier in der Küche sitzen zu sehen«, und zog sich in sein Zimmer zurück. Hier könnte er das Gespräch nochmals Revue passieren lassen und analysieren. Er fragte sich, ob er seine Mutter anrufen sollte. Vielleicht wusste Annerose Rat. Immerhin war sie auch eine Frau.

      Isabel sah ihm nach. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, vergrub sie ihren Kopf in den Händen. Warum merkte Thomas nicht, was ihr fehlte? Warum konnte er ihr nicht das geben, was sie brauchte? Und warum schaffte sie es nicht, ihm zu sagen, was sie in ihrer Beziehung vermisste?

      Kapitel 5

      Mit dem ersten Klingelton des Weckers stand Isabel am nächsten Morgen auf, ging ins Bad, wusch sich und schlüpfte rasch in ihre Kleider. Sie beeilte sich, denn sie befürchtete selbst, dass sie es sich anders überlegen könnte. Statt zum Dienst zu gehen, könnte sie sich weiterhin mit der Bettdecke über dem Kopf verkriechen und von der Außenwelt abschirmen, um nichts sehen und nichts hören zu müssen und bestenfalls nichts fühlen zu müssen. Doch diesen Impulsen wollte Isabel nicht länger nachgeben. Mit aller Willenskraft wollte sie versuchen, zu sich selbst zurückzufinden, und die Rückkehr an ihren Arbeitsplatz würde ihr Halt geben. Sie verließ hastig die Wohnung, ohne Thomas zu wecken und ohne sich von ihm zu verabschieden. Als er nach stundenlanger Lektüre am späten Abend ins Schlafzimmer geschlichen kam, hatte sie sich schlafend gestellt, um dem Gute-Nacht-Kuss zu entgehen.

      Als Isabel ihr Fahrrad aufschließen wollte, bemerkte sie, dass sie ihren Schlüsselbund vergessen hatte. Mist, dachte sie, aber nochmals nach oben gehen, kommt nicht infrage. Dann werde ich heute eben den Bus nehmen. Und schon lief sie die wenigen Meter zur Haltestelle.

      Von den Menschen, die an den wenigen Stationen bis zur Dienststelle ein- und ausstiegen, nahm Isabel keine Notiz, ebenso wenig von den vorbeiziehenden Gebäuden. Ihre Gedanken kreisten um das bevorstehende Wiedersehen mit den Kollegen. Wie würden sie ihr gegenübertreten? Hatte doch deren übermütiges Schaukeln das Schiff in extreme Schieflage und letztendlich zum Kentern gebracht – und damit Carl Dangelmann und sie in Lebensgefahr. Erneut bildete sich auf Isabels Haut eine Gänsehaut, als sie an die schrecklichen Minuten unter Wasser zurückdachte.

      Mit gemischten Gefühlen schritt sie durch die zu dieser morgendlichen Stunde fast menschenleere Fußgängerzone auf das Gebäude der Wasserschutzpolizeistation Friedrichshafen zu. Als sie den See erblickte, hoben sich ihre Mundwinkel zu einem leisen Lächeln. Sie kniff die Augen zusammen, denn die Wasserfläche glitzerte bereits im Sonnenlicht. Vor den Thurgauer Bergen am Ufer gegenüber zog noch der morgendliche Dunst sein hellgraues Band.

      Es kam Isabel vor, als wären Wochen vergangen, seit sie zum letzten Mal hier gewesen war. Dabei lagen nur wenige Tage dazwischen. Und erst fünf Monate war es her, seit sie zum ersten Mal vor der blauen Metalltür stand, um ihren Dienst anzutreten. Damals pochte ihr Herzen vor Aufregung und Freude mindestens so heftig wie jetzt. Doch nun mischten sich Scham, Furcht und das schlechte Gewissen. Dieser Gefühlscocktail drohte von ihr Besitz zu ergreifen, ihr wurde übel. Sie holte tief Luft und zwang sich, an die positiven Seiten der Entwicklung zu denken: Mein Traum hat sich erfüllt, ich bin von Tübingen zur Wasserschutzpolizei an den Bodensee versetzt worden. Ich liebe meine Arbeit. Doch so vieles hat sich seither verändert und mein Leben durcheinandergewirbelt.

      Da auch der Schlüssel zu dieser Tür in der Wohnung lag, musste Isabel wie an ihrem ersten Tag den Klingelknopf drücken. Sie hielt den Atem an. Wie damals öffnete ihr auch heute Frieder Kahle. Isabel mochte den dienstältesten Kollegen, hatte ihn vom ersten Arbeitstag an besonders ins Herz geschlossen, weil er sie an ihren verstorbenen Vater erinnerte.

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