Скачать книгу

sah den Bienen, Hummeln und Wespen zu, die sich an den bunten Blüten labten. Sie genoss das laue Lüftchen, das über ihr Gesicht strich und die Blätter der exakt zurechtgeschnittenen Bäume rascheln ließ. Sie lebte. Sie durfte die Schönheit um sich herum wahrnehmen. Sie hatte die Chance, noch einmal ganz neu anzufangen, sie konnte in ein neues Leben starten. Dieses Bewusstsein beflügelte Isabel, gab ihr neue Kraft und neuen Mut. Sie spürte ihren wiedererwachten Lebenswillen in jede Zelle ihres Körpers vordringen. Doch zuallererst wollte sie eines: ihre Freundin Lena treffen, und zwar sofort. Nichts liegt näher, als gleich ins nahe Konstanz zu fahren, dachte sie.

      Kapitel 4

      Isabel saß im Bus von Allensbach nach Konstanz und blickte über den See, der zu ihrer Rechten vorbeizog. Das große Wasser machte ihr nicht mehr Angst, vielmehr sorgte die natürliche Weite dafür, dass ihr Innerstes sich beruhigen und ihr Herz wieder weit werden konnte.

      Am Abend nach dem Unglück war Isabel nicht zu Thomas nach Hause gegangen. Entgegen dem Rat der Rettungssanitäter, sich im Krankenhaus untersuchen zu lassen, hatte sie, durcheinander wie sie war, die Katamaranfähre bestiegen und war von Friedrichshafen nach Konstanz zu ihrer Freundin gefahren. Im Nachhinein wunderte sie sich selbst, dass sie damals ein Boot ohne Hemmungen hatte besteigen können. Später war ihr klar geworden, dass sie zu der Zeit in völligem Schockzustand funktionierte. Panik und Angstzustände kamen erst hinterher.

      Lena hatte sie aufgenommen, ohne lange zu fragen, und zu Bett gebracht. Thomas hatte sie nur eine kurze Nachricht über WhatsApp geschickt. Eine Nacht und einen halben Tag lang hatte die Freundin bei ihr ausgeharrt, ihr zugehört, sie in den Arm genommen und erst losgelassen, als die Weinkrämpfe aufgehört und die Tränen versiegt waren. Lena, die ohnehin von der Affäre mit Carl wusste, hatte Isabel alles erzählen können. Nur ihr. Am nächsten Tag hatte Lena sie nach Friedrichshafen zurückgebracht und dem völlig ahnungslosen Thomas übergeben.

      Lena staunte, als Isabel nun unangemeldet in ihrer Praxis auftauchte: »Du bist wieder auf den Beinen? Und hier in Konstanz? Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst?«, begrüßte sie die Freundin.

      »Hab mich ganz spontan entschlossen. Hast du überhaupt Zeit?«, fragte Isabel.

      »Bald. Lass dich erst mal umarmen.« Dicht an Isabels Ohr flüsterte Lena: »Ich bin gerade mitten in einem Patientengespräch. Wenn das Telefonat beendet ist, haben wir Zeit, bis ich Ben aus der Kita holen muss.« Sagte es und schielte hinüber in ihr Behandlungszimmer. Dann drückte sie die Freundin von sich und fügte hinzu: »Setz dich einen Moment und nimm dir was zu trinken.« Damit verschwand Lena noch einmal im Zimmer nebenan.

      Was würde ich bloß machen ohne Lena, dachte Isabel in einem Anflug von Verzweiflung. Sie kannte Lena länger als jeden anderen Menschen auf der Welt – abgesehen von ihrer Schwester Katharina, die allerdings vor Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Ihrer Schwester war Isabels Beamtendasein zu spießig. Sie wusste nicht einmal, wo Katharina sich gerade aufhielt, ob sie noch studierte oder ins Berufsleben eingetreten war. Und doch verdankte Isabel ihrer Schwester, dass sie seinerzeit Thomas kennengelernt hatte, als sie Katharina in Freiburg besucht hatte.

      Bis Isabel bei Thomas eingezogen war, hatte sie in Tübingen lange Zeit eine Wohnung mit Lena geteilt. Obwohl Lena einige Jahre älter war – in wenigen Tagen erreichte sie das Schwabenalter – verband sie eine innige Freundschaft. Diese Verbindung war so stark, dass sie auch die räumliche Distanz, die durch Lenas Umzug nach Konstanz entstand, unbeschadet überdauert hatte. Lena war ihr vorausgeeilt: Sie hatte die berufliche Chance, in Konstanz in eine Praxis von Psychotherapeuten einzusteigen, auch genutzt, um sich in aller Freundschaft vom Vater ihres Sohnes Ben zu trennen. Damit hatte Lena geschafft, was sie selbst bis zum heutigen Tag nicht hinbekam: Mutig hatte sie diese Entscheidung getroffen, und dafür bewunderte Isabel sie. Ben war, neben Lenas Berufstätigkeit und Isabels Schichtdienst, der Grund, warum sie sich nicht mehr wie früher einfach mal spontan trafen und sich gemeinsam eine Nacht um die Ohren schlugen.

      Isabel hatte jahrelang die Praxisräume nicht mehr betreten und schaute sich um. Den Ficus benjamini kannte sie schon aus Tübingen. Seine Blätter streiften inzwischen die Zimmerdecke. Bilder mit Sinnsprüchen und Alltagsweisheiten an den hellgelb gestrichenen Wänden verliehen dem Wartezimmer wohltuende Wärme. Isabel ging von einer Tafel zur anderen und überflog die Zeilen: ›Probleme, die man konsequent ignoriert, verschwinden nur, um Verstärkung zu holen‹, stand da neben einem Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckte. Aha, dachte Isabel und las den nächsten Text, bei dem der Betrachter durch ein Schlüsselloch schaute: ›Halte durch, liebes Herz. Es regelt sich gerade alles neu.‹ Isabel schmunzelte und dachte: Wenn es damit getan wäre … Ihre Augen wanderten weiter. Mitten in einem roten Herz stand: ›Mach es dir zur Aufgabe, dich gut um dich selbst zu kümmern.‹ Das hörte sich alles richtig an, wenn es doch auch so einfach einzuhalten wäre …

      Isabel setzte sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl und kramte die Zeitung aus ihrem Rucksack, die sie im Zug eingesteckt hatte. Ein weiteres Mal überflog sie die Zeilen, und wieder beschleunigte sich ihr Herzschlag merklich:

      … Zwei Personen – dem Vernehmen nach ein Mann und eine Frau – hatten sich unter Deck befunden. Sie mussten Fensterscheiben zertrümmern, um sich aus dem sinkenden Schiff zu befreien. Einer der beiden Personen gelang es nicht, aus eigener Kraft an die Oberfläche zu schwimmen. Sie wurde mit in die Tiefe gerissen, konnte aber …

      Da kam Lena zurück und unterbrach Isabels Lektüre mit den Worten: »Ich freu mich so, dass du wieder auf die Beine gekommen bist, und das aus eigener Kraft. Ich dachte schon, du versinkst in deiner Trübseligkeit bis zum Sankt Nimmerleinstag und ich muss dich raushieven.«

      Isabel hob die Augenbrauen und sagte erstaunt: »Hey, so spricht keine Therapeutin!«

      »Nein, eine Therapeutin nicht, aber eine beste Freundin«, erwiderte Lena und zwinkerte ihr zu. »Und die wäre demnächst gekommen und hätte dir in den Hintern getreten, wärst du nicht freiwillig aus dem Bett gestiegen!«

      Isabel lächelte und sagte mit gespielter Empörung: »Da habe ich ja noch mal Glück gehabt, du brutales Wesen, du!«

      »Komm, wir gönnen uns jetzt einen schönen Eiskaffee«, sagte Lena, streifte ihr T-Shirt mit dem Emblem der Praxis ab und zog sich eine Bluse über.

      »Oh ja, den hab ich verdient«, pflichtete Isabel bei, steckte den Zeitungsbericht ein und fügte an: »Ich war in Allensbach in der Klinik, bei Carl, auf der Intensivstation.«

      Lena richtete gerade ihre Handtasche und blickte überrascht auf: »Wie? Du warst in Allensbach? Bist einfach in die Intensivstation rein? Ich habe mich schon gewundert, warum du hier so überraschend reinschneist.«

      Isabel nickte, und die Worte sprudelten förmlich aus ihrem Mund: »Ja, ich war bei Carl. Er liegt im künstlichen Koma. Die Atmosphäre dort war echt schlimm. Auch ich bin mir richtig ausgeliefert vorgekommen. Nur Maschinen um mich herum, und überall piepst und blinkt es.« Noch immer lief ein Schauder über Isabels Rücken, wenn sie zurückdachte. Ihre Augen suchten Lenas, als sie fortfuhr: »Noch viel schlimmer ist: Mit dem Menschen, den du besuchen willst, kannst du gar nicht reden, der liegt da wie tot. Aus Verzweiflung suchst du Kontakt zu anderen Angehörigen, die in derselben Situation sind. Es war grausam.« Isabel schmiegte sich an Lena, die näher gekommen war und die Freundin an sich drückte.

      »Das war bestimmt ein schwerer Gang«, sagte Lena und strich ihr über den Rücken.

      Isabel hob den Kopf, blickte in Lenas Augen und sagte: »Unbeschreiblich schwer … und furchtbar … ich möchte da auch nie mehr hin.«

      Lena legte eine Hand auf Isabels Arm und beteuerte: »Das kann ich gut verstehen. Das möchte niemand, der eine Wahl hat. Das war eine starke Leistung von dir, find ich ganz prima, dass du diesen Schritt gewagt hast.«

      »Danke, dass du das sagst, Lena. Und danke, dass du für mich da bist.«

      »Und jetzt lass uns gehen. Unser Eiskaffee wartet«, sagte Lena und nahm ihre Handtasche.

      Isabel grinste: »Aber bitte mit Sahne!«

      Auch Thomas staunte, als er kurz nach

Скачать книгу