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sie eine zerknitterte Zeitung. Das Foto eines Motorboots weckte ihre Neugier. Das Boot kam ihr bekannt vor. Mit spitzen Fingern fischte Isabel die Zeitung aus dem Behälter heraus, schnippte die Verpackung eines Müsliriegels weg und strich das Blatt mit beiden Händen glatt. Die fette Schlagzeile über dem Bild sprang ihr regelrecht entgegen:

      Motorjacht sinkt vor Friedrichshafen

      Der letzte Bissen blieb Isabel beinahe im Hals stecken, ihr Herz schlug schneller. Ihr Blick wanderte hoch zum Datum der Seite: 24. August. Die Zeitung war also schon ein paar Tage alt. 24. August! Der Tag nach dem Unglück, schoss es ihr durch den Kopf. Unter dem Foto der »Amareno« las Isabel die Bildunterschrift:

      Das soll die gekenterte Motorjacht sein.

      Isabels Augen flogen nun über den Text:

      Vor Friedrichshafen ist gestern Nachmittag eine Motorjacht überrollt, gekentert und anschließend gesunken. Wassersportler hatten das 9,70 Meter lange und 3,20 Meter breite Schiff in Konstanz gechartert. Nach unbestätigten Informationen soll das Boot Schlagseite bekommen haben, weil sich zu viele der elf Personen auf einer Seite aufgehalten haben. Bei einem Kurvenmanöver soll dann das Unglück passiert sein. Neun der elf Besatzungsmitglieder kamen fast unversehrt davon. Sie retteten sich durch einen Sprung ins Wasser. Zwei Personen – dem Vernehmen nach ein Mann und eine Frau – hatten sich unter Deck befunden. Sie mussten Fensterscheiben zertrümmern, um sich aus dem sinkenden Schiff zu befreien. Einer der beiden Personen gelang es nicht, aus eigener Kraft an die Oberfläche zu schwimmen. Sie wurde mit in die Tiefe gerissen, konnte aber von Tauchern geborgen werden. In lebensbedrohlichem Zustand musste sie in eine Klinik eingeliefert werden. Die zweite Person erlitt offensichtlich nur leichtere Verletzungen. Die anderen Passagiere kamen mit einem Schock davon. Eine vorbeifahrende Segeljacht hatte das Unglück beobachtet, einen Notruf abgesetzt und zehn Personen an Bord genommen. Wie es tatsächlich zu dem Unfall kommen konnte, ist noch nicht abschließend geklärt. Nach unbestätigten Angaben sollen die Verunglückten selbst Polizisten gewesen sein. Die Ermittlungen dauern an.

      Isabel ließ das Blatt sinken, ihre Hände zitterten. Sie hatte es kaum geschafft, den Artikel zu Ende zu lesen. Ihre Augen brannten, auf einmal tauchten Sterne auf, und sie merkte, wie Übelkeit in ihr hochstieg. So fühlt sich das also an, wenn man selbst betroffen ist. Die zweite Person erlitt offensichtlich nur leichtere Verletzungen … Offensichtlich, was ist schon offensichtlich, fragte sie sich und sackte in ihrem Sitz zusammen.

      Eine Frau, die gerade den Gang entlangkam, hatte den Zwischenfall beobachtet und eilte sofort zu Isabel. Sie tätschelte ihr die Wange, und als Isabel die Augen öffnete, kramte sie eine Plastikflasche mit Mineralwasser aus ihrer Tasche, schraubte den Verschluss ab, bot sie Isabel an und sagte: »Trinket Sie erst mal einen Schluck.«

      Das kalte Wasser rann wohltuend Isabels Kehle hinunter, und sie hauchte: »Danke, das tut gut.«

      »Sie send ohnmächtig worde! Was ist los mit Ihne?«, fragte nun die Frau in alemannischem Dialekt.

      »Es … geht schon wieder«, stieß Isabel hervor. »War nur eine kleine Kreislaufschwäche.«

      Die freundliche Fremde half Isabel, sich wieder aufzurichten. »Ich hab wohl zu wenig getrunken«, fügte Isabel hinzu.

      »Sie könnet die Flasch gern behalte. Ich steig sowieso gleich aus«, sagte die Frau und erhob sich.

      »Vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen«, antwortete Isabel höflich und nahm einen weiteren Schluck. Schnell erholte sie sich und starrte wieder zum Fenster hinaus. Was würde sie am Ziel erwarten? In welchem Zustand würde sie Carl antreffen? War er inzwischen wieder bei Bewusstsein? In ihrem Kopf jagte ein banger Gedanke den anderen. Den Umstieg in Radolfzell schaffte Isabel ohne Probleme, und in Allensbach verließ sie pünktlich den Zug.

      Kapitel 3

      Isabel entschied sich, nicht den Bus zur Klinik zu nehmen, sondern zu Fuß zu gehen. Der kurze Marsch würde ihr guttun und helfen, ihre innere Anspannung zu mildern. Sie erreichte das weitläufige Klinikareal und schritt auf dem gepflasterten Weg zum Eingangsgebäude. Dabei nahm sie kaum die Blumenpracht in den großen Betontrögen wahr, die den Weg säumten.

      Fast geräuschlos schoben sich die Glastüren am Eingang zurück, und mit klopfendem Herzen betrat Isabel das Gebäude. Am Empfang erkundigte sie sich nach der Intensivstation. Eine junge Frau erklärte ihr freundlich den Weg und bat sie, sich am Pflegestützpunkt der Station zu melden. Isabel bedankte sich und folgte mit hämmerndem Herzen den Schildern. Sie führten einen Flur entlang, vorbei an Arztbüros und Therapieräumen, der Isabel endlos erschien und vor einer weiteren Schiebetür aus Glas endete. Diese war offensichtlich mit Code gesichert. Isabel trat einen weiteren Schritt auf sie zu und sie öffnete sich wie von Geisterhand. Isabel war unschlüssig, ob sie eintreten sollte, dann schlüpfte sie, einem spontanen Impuls folgend, kurzerhand hinein. Das Blut in ihren Adern pulsierte, als sie sich umschaute. Der Pflegestützpunkt war nicht besetzt, und so ging sie einfach weiter. Eine Schwester mit einem Tablett voller medizinischer Instrumente eilte aus einem Zimmer heraus. Die Tür blieb einen Spaltbreit offen. Schritte näherten sich und wie von einer höheren Macht geleitet, huschte Isabel rasch in das Zimmer hinein. Einen Augenblick lang hielt sie den Atem an und blieb bewegungslos stehen. Ihr Herz hämmerte, und jede Faser ihres Körpers war zum Zerreißen gespannt. Vorsichtig schaute sie sich um. Zwei Betten standen im Raum und beide waren belegt. Neben jedem befanden sich mehrere Beatmungs- und Überwachungsgeräte. Überall blinkte, piepste und surrte es.

      Gerade hatte sich Isabel vom ersten Schrecken erholt, da überfiel sie der nächste. In dem Bett unmittelbar vor ihr entdeckte sie einen grauen Haarschopf. Diese Locken kannte sie. Carl! Blitzschnell schlug sie die Hand vor den Mund, als verböte sie sich selbst, den Namen auszusprechen. Ihr Herz schlug noch heftiger. Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen und trat näher an das Bett heran. Lautlos glitt ihr Rucksack auf den Boden. Carl, er war es zweifelsfrei. Seinen Körper konnte Isabel unter einem weißen Laken nur erahnen. Mehrere Kabel und Schläuche verbanden ihn mit piepsenden Apparaten. Bildschirme zeichneten mit farbigen Linien Pulsfrequenz, Blutdruck und weitere Werte auf.

      Isabels Herz krampfte sich zusammen, als sie Carl so liegen sah: blass und bar jedes Lebenszeichens. Energielos, abhängig, machtlos, ausgeliefert – der Zustand, der ihm am meisten verhasst war. »Carl«, flüsterte Isabel nun doch mit erstickter Stimme. Und nochmals voller Mitleid: »Carl.«

      Immer noch starrte Isabel auf Carl, als sie plötzlich ein Schluchzen vernahm. Erstaunt drehte sie den Kopf. Am Nebenbett saß eine Frau, in sich zusammengesunken, und kramte in ihrer Handtasche. Isabel hatte die Frau bisher noch gar nicht bemerkt. »Guten Tag«, flüsterte sie ihr zu, denn sie traute sich nicht, laut zu reden.

      Die Frau zückte ein Taschentuch, schnäuzte sich und blickte aus rotgeweinten Augen zu Isabel auf. Ein leises »Grüß Gott« kam über ihre bebenden Lippen. Bevor sie weiterreden konnte, betrat ein Mann in weißem Kittel den Raum. Er grüßte die beiden Frauen knapp und blieb vor Carls Bett stehen. Kurz musterte er Isabel und fragte: »Sind Sie eine nahe Verwandte?«

      Isabel trat einen Schritt zur Seite. Der Kloß in ihrem Hals verhinderte eine Antwort. Sie faltete ihre Hände und nickte heftig.

      »Doktor Held. Ich bin der Anästhesist«, stellte sich der Arzt vor, während er bereits zu den Geräten blickte und die Zahlenreihen auf dem Monitor kontrollierte. »Noch keine Reaktion, aber das will nichts heißen.«

      Wieder zu Isabel gewandt, fuhr er fort: »Wir tun unser Möglichstes. Wir wissen nie genau, was ein Patient in welchem Stadium mitkriegt, und ebenso wenig, wie weit der Patient weg ist.«

      Isabel blickte den Mediziner flehend an. Der vertiefte sich in seine Unterlagen und sagte: »Der Patient hat eine schwere Pneumonie, das Lungengewebe ist geschädigt.« Nach einer Pause fügte er in zuversichtlichem Ton hinzu: »Eigentlich hat der Patient gute Chancen. Er ist unterkühlt gerettet worden und wir haben im MRT kein Hirnödem entdeckt.«

      Obwohl ihn sein Beruf wahrscheinlich täglich mit solchen Befunden konfrontierte, klang aus seiner Stimme Mitgefühl. Jetzt gelang es Isabel nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten, und sie ließ ihnen freien Lauf.

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