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Familiendrama.

      Sander brauchte ein paar Sekunden, um den Inhalt der dürren Pressemitteilung zu verdauen. Wenig später erfuhr er jedoch etwas, das ihm den Blutdruck in die Höhe jagte, weil es ihn fatal an den Bankraub von vor einem Jahr erinnerte. Denn der Hausmeister war ein sogenannter Polizeifreiwilliger. Einer, der in seiner Freizeit die aktiven Polizeibeamten unterstützte. In Uniform – und mit Waffe.

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      »Ich fasse es nicht«, kommentierte Soko-Leiter Hartmut Zeller, als ihn in seinem Stuttgarter Büro die Nachricht von dem Familiendrama erreichte. Er rief das halbe Dutzend Beamte seines Teams zusammen. Besonders interessiert zeigte sich sein Stellvertreter August Häberle, der hellhörig wurde, wenn Meldungen dieser Art aus seiner Heimatstadt kamen. »Ein Polizeifreiwilliger«, wiederholte er erstaunt und entsetzt gleichermaßen.

      »Und die Waffe, die er benutzt hat, war die, die er als Hilfspolizist tragen durfte, aber nicht hätte mit nach Hause nehmen dürfen«, ergänzte Zeller.

      »Was glaubt ihr, wie jetzt in Göppingen die Gerüchte ins Kraut schießen«, brummte Häberle.

      »Na klar«, meinte ein älterer Beamter, der aussprach, was die anderen dachten, »das muss natürlich etwas mit dem falschen Polizisten zu tun haben, der bei unserem Banker aufgetaucht ist.«

      »Suizid, weil er mit dem schlechten Gewissen nicht mehr leben konnte«, resümierte ein anderer. »Dazu noch stilgerecht fast am Jahrestag.«

      Häberle hob beschwichtigend die Hände: »Kollegen, das kann alles ein tragischer Zufall sein. Warum sollte einer seine ganze Familie auslöschen, wenn er ein paar 100.000 Mark beiseiteschaffen konnte?«

      Einer aus der Runde mutmaßte: »Vielleicht hat seine Frau Wind davon bekommen und wollte ihn verpfeifen.«

      Zeller ging nicht darauf ein. »Die Kollegen in Göppingen werden das abklären und uns berichten. Ich kann euch aber schon mal so viel sagen: Der Name des Mannes ist bisher in unseren Ermittlungsakten nicht aufgetaucht. Keinerlei Verbindung in Richtung Seifritz.«

      »Hat er denn Schulden, dieser Mann?«, meldete sich ein anderer.

      »Auch dazu werden wir bald aus Göppingen Nachricht bekommen.« Er wandte sich an Häberle: »Oder willst du selbst eingreifen?«

      »Nein, nein«, wiegelte der junge Ermittler ab. »Lass das mal die Truppe in Göppingen machen. Sonst sind sie womöglich beleidigt, wenn wir schon wieder auftauchen.«

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      Sander fühlte sich von allen Seiten gestresst: unzählige Anrufe von Kollegen aus der halben Republik. Die Boulevardpresse lechzte nach Fotos von dem Haus, in dem sich das Familiendrama abgespielt hatte. Einige ganz forsche Journalisten fragten, ob es denn Bilder von den erschossenen Kindern gebe. Als ob diese irgendwann schon einmal auf einem Gruppenfoto veröffentlicht worden wären. Auch Grüninger schüttelte über derlei Ansinnen den Kopf. Er hatte in der Nachkriegszeit die Zeitung in Göppingen mit aufgebaut und war nie mit der großen Welt der Boulevardpresse direkt konfrontiert worden. In dieser waren die Sitten rau und der Kampf um die beste Story täglich im Gange. Oftmals wurden vergleichsweise hohe Honorare für ein Foto gezahlt, wenn es Täter, Opfer oder sonst eine interessante Person zeigte. Allerdings scheiterten derlei Geschäfte dann meist an den begrenzten schnellen Übermittlungsmöglichkeiten. Ein Foto zu faxen, war natürlich angesichts der schlechten Qualität sinnlos. Und andere Techniken zur Bildübertragung standen der Lokalredaktion nicht zur Verfügung. Abhilfe konnte da allenfalls ein Express-Päckchen per Eisenbahn schaffen: die entwickelten Bilder in einen kleinen Karton gepackt und am Bahnhof aufgegeben. Sofern der Zielort am gleichen Tag erreicht wurde, konnte der Empfänger dort das Päckchen persönlich abholen – und das Foto war noch rechtzeitig genug in der Redaktion, um am nächsten Tag in der Zeitung zu erscheinen.

      Der Lokalteil des Heimatblattes erinnerte an diesen Märztagen 1983 ein bisschen an die Boulevardblätter: Kriminelles in jeder Ausgabe. Der Rückblick auf den Banküberfall, das Familiendrama – und an den Folgetagen jeweils Ergänzungsartikel.

      Grüninger, der bei seinen frühmorgendlichen Fahrten im überfüllten Linienbus das Ohr buchstäblich am Pulsschlag der Bevölkerung hatte, wurde von Tag zu Tag nervöser. »Glauben Sie denn auch, dass die Sache mit dem Hausmeister mit Seifritz zu tun hat?«, fragte er, nachdem auch Sander bereits kurz nach 8 Uhr in der Redaktion erschienen war.

      Der zuckte mit den Schultern. »Schwierig zu sagen. Wir sollten aber dringend mal zu den Gerüchten etwas schreiben.«

      Grüninger wollte das Thema in einer der folgenden Redaktionskonferenzen ansprechen und die Meinung der übrigen Kollegen dazu hören.

      Noch bevor es dazu kam, ereilte die Redaktion eine neuerliche Schockmeldung. Gerade mal zwei Tage nach dem Familiendrama.

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      Schon einige Stunden zuvor hatte die Meldung bei der Sonderkommission in Stuttgart wie eine Bombe eingeschlagen. Wieder Göppingen. Schon wieder ein mysteriöser Fall. Waren sie denn dort jetzt alle verrückt geworden, oder hatte der Banküberfall nach einem Jahr eine Kettenreaktion ausgelöst? Waren vielleicht doch einige Göppinger darin verwickelt – und drohte etwas aufzufliegen, wovor sie alle Angst hatten? Etwas, von dem die Kriminalisten keine Ahnung hatten? Gerüchte dieser Art würden schnell die Runde machen, schoss es August Häberle durch den Kopf, als er wieder mit Zeller und einigen Kollegen im Besprechungsraum der Landespolizeidirektion Stuttgart 1 zusammengekommen war.

      »Wir sind über einen Todesfall unterrichtet worden, der sich am gestrigen Dienstag am Bodensee ereignet hat«, informierte Zeller nun detailliert das ganze Team: Ein Geschäftsmann aus Göppingen war mit seinem Auto von einer Bodenseefähre gerollt und mit dem Fahrzeug versunken.

      »Wie?«, fragte einer der Ermittler. »Von der Fähre gerollt? Wie geht das denn?«

      Zeller schob einige Blätter beiseite und las nach. »Er ist in Romanshorn, in der Schweiz also, gegen 13.30 Uhr als Letzter auf die Autofähre gefahren, zurück ans deutsche Ufer. Ein Zöllner will beobachtet haben, dass der Mann wohl darauf bedacht war, auch wirklich als Letzter auf das Schiff zu fahren.«

      »Ein Suizid also«, resümierte Häberle.

      »Die Kollegen in Friedrichshafen gehen davon aus, obwohl kein Motiv dafür erkennbar ist«, berichtete Zeller weiter. »Der Pkw stand mit dem Heck rund fünf Meter von der Reling entfernt, als sich das Auto während der 50-minütigen Überfahrt etwa 600 Meter, bevor die Fähre das Friedrichshafener Ufer erreicht hätte, rückwärts in Bewegung gesetzt hat. So sagen es zwei Jugendliche, die im Fahrzeug davor saßen.«

      »Ein Unfall oder eine Fehlbedienung des Autos?«, hakte ein Ermittler nach.

      »Sieht nicht danach aus. Die Kollegen schreiben, der Fahrer habe den Motor des Autos gestartet. Und selbst dann, wenn dabei versehentlich der Rückwärtsgang eingelegt gewesen wäre, hätte der kurze Ruck nicht ausgereicht, den Pkw über eine Strecke von fünf Metern zu bewegen und dort eine stabile Absperrkette zu durchbrechen. Im Übrigen seien die Fähren mit einem Gefälle zur Schiffsmitte hin konstruiert, sodass kein Fahrzeug selbstständig von Bord rollen könnte.«

      »Was hat der Mann denn in der Schweiz gemacht?«, wollte Häberle wissen. »Hat man im Wagen etwas gefunden? Belege …«

      »Belege«, griff Zeller das Gesagte auf. »Du denkst an Bankbelege. Bisher keine Erkenntnisse, nein. Und was den Grund der Reise anbelangt, hab ich die Kollegen in Göppingen gleich, nachdem ich die Meldung gekriegt hab, danach gefragt. Sie sagen, dass er vormittags noch mit seiner Frau gemeinsam in den eigenen Betrieb gefahren ist. Dort habe er dann erklärt, er müsse auswärts geschäftliche Verpflichtungen erledigen und werde deshalb möglicherweise nicht bis zum Mittagesessen zurück sein.«

      »Und dann?«

      »In seiner Wohnung hat man inzwischen eine Notiz gefunden, mit der er seiner Frau mitteilte, er werde für einige Tage verreisen. Sogar einige Reiseutensilien hat er wohl zusammengepackt, ehe er in Richtung Bodensee gefahren ist, wo er vermutlich

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