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Während er das tut, hat er das Bild der Kantine der Gendarmerie vor Augen und denkt an Pasta mit Meeresfrüchten.

      Die Tür geht auf, Brigadier Resnais tritt ein. Wie immer exakt in seinen Bewegungen und etwas nachlässig in der Art, wie er redet.

      »Wir hatten letzte Nacht einen ziemlichen Crash in der Rue Bisson. Nur ein Auto, der Fahrer saß allein drin und … du weißt ja, wie die aussehen, wenn sie seitlich auf einen Baum aufprallen.«

      »Schrecklich?«

      »Der Mann ist eine halbe Stunde nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus gestorben. Den Unfallwagen hat Marie herbringen lassen. Sie meint, du sollst dich da mal umsehen«, Resnais legt ein dünnes Dossier auf Ohayons Schreibtisch. »Maries Zwillinge haben Lacksplitter auf der Straße gefunden. Es könnte eine Kollision gegeben haben. Also eine Kollision noch vor der Stelle, wo er sich dann gedreht hat.«

      »Was ist denn überhaupt passiert?«

      »Ein BMW wollte einen Laster überholen, hat plötzlich angefangen, sich zu drehen, und ist dann seitlich gegen einen Baum geprallt. ›Kam angerast wie ein Irrer‹, hat der Fahrer des Lastwagens gesagt.«

      Ohayon beginnt, den Bericht zu studieren, und Resnais fällt auf …

      »Du siehst müde aus. Gestern noch lange gefeiert?«

      »Auf dem Bahnhof? Nein, wir hatten ja die Kinder dabei. Wir sind gleich nach dem Feuerwerk gegangen.«

      »Und? Wie gefällt er dir, unser neuer Bahnhof?«

      »Schick. Ein riesiger Würfel aus Glas. Aber das Tollste sind natürlich die Farben. Ich weiß nicht, wie die das machen, in den Glasscheiben entsteht Licht, und das wechselt dann die Farbe. Sieht ein bisschen aus wie ein Zauberwürfel. Kennst du die noch?«

      »Du magst das Moderne?«

      »Absolut.«

      »Hätte ich nicht gedacht.«

      »Aber die Leute. Die Leute … Ich hatte das Gefühl, dass denen das nicht mehr gefällt, dass bei uns alles so schick daherkommt und dass so viel gebaut wird. Du hättest sehen sollen, wie die geguckt haben! So in der Art von: ›Wollen wir nicht.‹ Sogar als unser Bürgermeister seine Ansprache gehalten und gesagt hat, dass da ab nächstem Jahr der TGV hält und man in zwei Stunden in Paris ist, haben sie rumgemuffelt. Und der Pfarrer hat sich natürlich auch wieder eingemischt und gesagt, Fleurville wäre jetzt Babel. Aber das Feuerwerk war klasse, Florence hat sich riesig gefreut.«

      »Das ist das Wichtigste. Aber weißt du, was komisch ist?«

      »Na?«

      »Dass Monsieur Descombe so spät zum Überholen angesetzt hat, so kurz vor der Einmündung in die Rue Belleville. Das konnte er kaum noch schaffen. Das sagt auch Marie.«

      »Monsieur Descombe war der Fahrer?«

      »Auf den ist der Wagen jedenfalls zugelassen. Er hatte keine Papiere dabei, und ihn wiederzuerkennen, so wie er aussah … Die Zwillinge haben ihn ein bisschen hergerichtet, da kommt nachher jemand, um ihn zu identifizieren.«

      Ohayon kennt die Rue Bisson. Die Straße hat den Charakter einer Allee und beginnt an einem Kreisverkehr nicht weit vom Centre Fleur entfernt. Sie ist etwa einen Kilometer lang und beschreibt einen gestreckten Bogen. Nach 500 Metern zweigt ein Feldweg ab.

      Dort steht ein Mann, der sich genau jetzt, da Ohayon den Feldweg vor Augen hat, auf diesem Feldweg aufhält und ihn inspiziert. Es ist einer von Maries Zwillingen, ein gut ausgebildeter Fachmann der Spurensicherung. Er hat eine Art Zelt aufgebaut, und seine Kapuze vorne so eng zusammengezogen, dass sein Gesicht kaum noch zu sehen ist. Gerade deckt er die Plane auf, die während der Nacht eine undeutliche Spur geschützt hat. Er wird die Spur fotografieren und ausmessen. Sein Gesicht zeigt, genau wie das von Ohayon, den Ausdruck stabiler Konzentration und innerer Ruhe, denn er ist ein Mann, der exakt das tun wird, was er sich vorgenommen hat. Niemand wird ihn dabei unterbrechen, ablenken oder vorschlagen, dass er auch anders vorgehen könne. Das Wort Arbeit hätte einen besseren Klang, würde es immer so zugehen.

      »Also willst du dir die Unfallstelle noch mal ansehen?«, fragt Resnais, da Ohayon bereits zwanzig Sekunden schweigt, »oder legen wir die Sache zu den Akten? Du musst das entscheiden.«

      Ohayon hat nur halb zugehört, denn nachdem er den Verlauf der Straße imaginiert hat, ist ihm ein Gedanke gekommen.

      »Der LKW-Fahrer hat dir gesagt, Monsieur Descombe wäre wie ein Irrer von hinten auf ihn zugekommen?«

      »Ja.«

      »Also ein Raser.«

      »Sieht so aus.«

      »Du kannst mal Folgendes machen …«

      »Telefonieren?«

      »Ich möchte wissen, seit wann Michel Descombe seinen Führerschein hat, ob er früher schon in Unfälle verwickelt war, rote Ampeln überfahren hat, oder … Sein Verhalten im Verkehr eben.«

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      Er wird sich später daran erinnern, dass er zwei Einkaufstüten, eine gefüllt mit Pfandflaschen, in Händen hielt, als der Anruf kam.

      »Michel tot? – Nein.«

      Alain erschrickt in einem Maß, dass er der Frau vom Sozialdienst dreimal widerspricht. Er wird fast wütend, als sie ihn bittet, den Toten zu identifizieren.

      Alains Frau ist schon früh am Morgen zu ihrer Schwester nach Nancy gefahren, er kann mit niemandem reden.

      Seine Hand geht ein Stück hoch, Richtung Mund. Bilder einer Leichenhalle tauchen auf, Bilder, die er nur aus dem Fernsehen kennt. Eine totale Fälschung. Selbst der Begriff ›Leichenhalle‹ ist falsch. Er blendet die Bilder aus und verhält sich tapfer. Eben wie ein Freund. Das muss jetzt gemacht werden. So schlimm es auch ist.

      Bevor Alain das Haus verlässt, um zur Gendarmerie zu fahren, stellt er sich vor den Spiegel im Flur und überprüft den korrekten Sitz seiner Kleidung. Dabei sieht er vor seinem inneren Auge das Bild eines aufgesprungenen Kofferraums, aus dem ein Geist herausflattert.

      Kann man Alains Kofferraumbild mit der Klaviererinnerung von Nina vergleichen? Haben der Schock und die beginnende Trauer bei Alain und Nina etwas ausgelöst, das am Ende gar nichts mit dem Unfall zu tun hat? Neigen die kleinen Seelchen dazu, sich auf diese Weise der Realität zu entziehen? Schwer zu sagen. Freude ist viel leichter darzustellen als Trauer, denn zur Freude gehört, dass sie sich offenbaren will. Trauer dagegen will sich verbergen und manchmal sogar betrügen.

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      Ohayon ist aufgebrochen, um den Lastwagenfahrer noch mal zu befragen, Maries Mitarbeiter baut das Zelt ab, das er über der Spur auf dem kleinen Feldweg aufgestellt hatte, Marie unterhält sich am Rand eines Sees mit einem Förster, neben dem Förster sitzt ein hechelnder Hund, der heute schon eine Belohnung bekam, Alain Chartier betritt die Gendarmerie.

      Obduktion, Gerichtsmedizin, da muss er hin. Alain fährt mit dem Fahrstuhl nach unten, in merklich kühlere Regionen. Als er den Raum betritt, in dem die Toten untersucht werden, ist Marie Grenier nicht da. Die hat noch am Feensee zu tun. Aus dem hat man am Morgen die Leiche eines alleinstehenden Elektrikers geborgen. Der Mann war bereits Mitte Januar als vermisst gemeldet worden. Im Grunde waren die Umstände seines Todes schon zwei Tage später geklärt, da ein Nachbar und der Bruder ausgesagt hatten, er ginge manchmal zum Eisangeln. Und tatsächlich: Neben dem Loch, das er gebohrt hatte, war das Eis eingebrochen. Sie hatten damals Taucher runtergeschickt. Ohne Erfolg.

      Um Spaziergängern einen schrecklichen Fund zu ersparen, hatte sich der Förster bereit erklärt, sobald das Eis weg war, jeden Morgen den See zu umrunden. Heute hatte sein Hund angeschlagen. Einer von Maries Zwillingen ist gerade dabei, die stark aufgeblähte Leiche des Elektrikers abzuspülen.

      Alain tritt vorsichtig näher.

      Der Tote, der gewaschen

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