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sagt Nina nach fünf Minuten.

      »Zeig.«

      Wer soll das alles erklären? Die Vorgänge, die Motivlage, die Antriebskräfte. Die beiden sind noch nie irgendwo eingebrochen, und jetzt … Mit einem großen Schraubenzieher die Tür aufgehebelt! An Handschuhe gedacht! An Taschenlampen! Beide haben sich auch noch die Schuhe abgewischt, mit einem Lappen, den Nina mitgebracht hat. Nina! Die betreibt ein kleines Musikstudio und ist dabei, sich als Musikproduzentin zu etablieren. Eine Frau, die mit Musikern an Sounds bastelt. Sie hat einen Sohn, der noch im Krabbelalter ist, eine Mutter, die ihr hilft, das Kind aufzuziehen, und eine unglaublich tolle Espressomaschine, die sie allerdings nur manchmal benutzt, und jetzt … studiert sie zusammen mit Yvonne im Schein einer Taschenlampe einen Vertrag. Geradezu unsinnig. Aber das ist das Bild, mit dem sich die Realität präsentiert.

      Als sie sich neben ihren Autos trennen, sagt Nina: »Danke.« Dann fängt sie noch einmal an zu weinen. Gut, das könnte der nachlassende Druck sein. Sagt dann mit leicht fremder Stimme noch einmal: »Danke.« Und zuletzt etwas klarer: »Du hast mich gerettet, Yvonne. Alleine hätte ich mich das nie getraut.«

      Nur gut, dass Yvonne nicht auch noch sagt: »Gern geschehen.« Aber denkbar wäre es gewesen. In dieser Realität.

      Wie kann man das Groteske ordnen, wie es erklären? Offenbar erzeugen die Umstände Taten. Ob da überhaupt noch von einem Wollen die Rede sein kann? Andererseits: Manche Menschen sind so gemacht, dass sie handeln, wenn sie bis zum Hals in der Scheiße stecken.

      Sie fahren ab. Das Licht ihrer Autos schalten sie erst an, als sie 300 Meter von Michels Haus entfernt sind, die kleinen, hinterhältigen Seelchen.

      Es ist leicht, Leute zu verdammen für Taten, die man nur von außen beobachtet. Um ein vernünftiges Urteil abgeben zu können, müsste man wissen, warum sie das alles getan haben. Ein kategorisches ›Nein!‹ hatte plötzlich in Yvonnes Kopf das Regiment übernommen. Noch im Lacombe. Mehr ist nicht bekannt.

      Was für Schlüsse würde ein Ermittler aus diesem kategorischen Nein einer Frau ziehen? Wenn er gleichzeitig weiß, dass das Opfer ein Mann ist? Hoffentlich keine voreiligen.

      Sie fahren hintereinander. Da es stockfinstere Nacht ist, ergibt sich ein Bild, an dem Liebhaber von Experimental-filmen ihre Freude hätten. Das Bild ist schwarz, und in ihm schweben vier rote Punkte, die, immer paarweise, ein bisschen hin und her pendeln. Natürlich, das sind die Rücklichter. Nach einer Weile könnte niemand mehr sagen, ob sie über- oder hintereinander fahren. Zwei Kilometer, dann kommen die Frauen an eine Stelle, an der die Straße sich gabelt. Dort trennen sich ihre Wege. Und was mit den roten Punktpaaren passiert, versteht sich von selbst.

      Brigadier Resnais bekommt nichts mit von all diesen Ereignissen. Er steht im strömenden Regen neben einem völlig zerstörten BMW 2002 und sieht Feuerwehrleuten bei der Arbeit zu. Die haben gerade beschlossen, den Wagen mit großen Zangen aufzuschneiden, um den Fahrer rauszuholen. Der lebt zwar noch, sieht aber so schrecklich aus, dass Resnais kein zweites Mal hinsieht. Es riecht nach Eisen, Öl und verbranntem Gummi.

      »So kriegen wir ihn nicht raus, der Wagen muss erst mal vom Baum weg«, kommandiert der von der Feuerwehr, der das Sagen hat. Die routinierte Bestimmtheit, mit der er spricht, hilft Resnais, den Unfall als das zu sehen, was er ist. Ein Pech. Der Preis für einen idiotischen Moment.

      ›Wird’s wohl nicht schaffen‹, hat ihm der Notarzt vor zehn Minuten erklärt. Resnais, hoch aufgeschossen, jungenhaft, immer korrekt, dreht sich um, spürt seine neuen Stiefel am äußeren Knöchel und am dicken Zeh. Gleichzeitig trifft unablässig Regen seine Haut, der kommt fast waagerecht, getrieben von Böen.

      Zweihundert Meter die Rue Bisson runter steht ein großes Dieseltier als Schatten mit Blinklicht. Es hat 15 Tonnen Kies geladen, wie der Fahrer ihm vorhin erklärt hat. Mehr als das mit dem Kies und etwas Wirres über einen Feuerlöscher hat Resnais bis jetzt nicht aus dem Fahrer des LKW rausgekriegt.

      »Warten Sie ein bisschen, ehe Sie ihn vernehmen, der steht unter Schock«, hatte der Notarzt geraten.

      Ein lautes Geräusch hinter ihm. Zwei Ketten spannen sich. Ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr beginnt damit, den orangefarbenen BMW vom Baum wegzuziehen. Männer laufen weg, denn der Baum gibt alles her, was er an Regen gespeichert hat, und dazu auch noch Äste und letzte Blätter vom Herbst.

      »Geht es Ihnen jetzt besser? Können Sie eine Aussage machen?«

      »Er wollte mich überholen und hat sich plötzlich gedreht.«

      »Einfach so? Sind Sie vielleicht auf die andere Spur …?«

      »Nein.«

      »Wissen Sie, ob hinter Ihnen einer war? Einer, der ausgeschert ist?«

      »Hab nichts gesehen.«

      »Und nach dem Unfall?«

      Der LKW-Fahrer zuckt mit den Schultern.

      »Sie sind ausgestiegen …«

      »Klar! Um zu sehen, ob er Hilfe braucht, klar.«

      »Dann müssten Sie ja ein Auto gesehen haben, wenn da noch eins war. Oder ist einer an Ihnen vorbeigefahren?«

      »Hab keins gesehen. Der sah so schrecklich aus, und er hat sich bewegt. Den Kopf hin und her, als wollte er ›nein‹ sagen. Der wird sterben, oder?« Nachdem er das gesagt hat, taumelt der Mann ein Stück zurück, muss sich an seinem LKW festhalten.

      Resnais ruft einen Kollegen und bittet ihn, den Fahrer nach Hause zu bringen.

      Marie Grenier von der Spurensicherung ist endlich da, was Resnais erleichtert. Sie ist schick angezogen mit einer Öljacke drüber. Maries Mitarbeiter, die alle die Zwillinge nennen, ziehen sich gerade ihre Kapuzen zu.

      »Fangt schon mal an«, ordnet sie an, »zuerst alles an Spuren auf der Straße.« Dann wendet sie sich an Resnais. »Hast du im Krankenhaus Bescheid gesagt, dass er zu uns gebracht wird, falls er es nicht schafft?«

      »Noch nicht.«

      »Ruf Roland an, dass er eine richterliche Erlaubnis zur Obduktion einholt.«

      Resnais zuckt mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass ihr viel findet. Der Regen und … wahrscheinlich war ja auch nichts, außer dass er zu schnell war. Und dann noch der Zustand der Straße …« Er zeigt auf die Spurrillen, in denen Wasser steht, hart getroffen von Tropfen.

      »Wie ist das passiert?«

      »Er wollte den Laster überholen und hat dabei die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren.«

      »Wie? Der setzt so spät noch zum Überholen an? Ich meine, die Straße mündet gleich da vorne in die Rue Belleville. Da stimmt doch was nicht. Nee! Ohayon soll sich hier gleich morgen früh mal umsehen. Hast du nach Zeugen gefragt?«

      »Klar, die kamen aber alle erst, nachdem es passiert war. Und der LKW-Fahrer meint, er hätte kein weiteres Fahrzeug gesehen.«

      Einer der Zwillinge ruft: »Hier liegen rote und orangefarbene Lacksplitter!«

      »Denk dran, Resnais, dass Roland eine richterliche Verfügung besorgt, ich will ihn mir ansehen, falls er es nicht schafft. Jetzt gucke ich mir erst mal den Laster an, nicht, dass der am Ende den BMW von der Straße gedrückt hat. Hat der Arzt dem Fahrer Blut abgenommen?«

      »Hm.«

      Die Zwillinge sammeln ihre Lacksplitter ein. Sie haben starke Lampen aufgestellt, deren Licht flach bis hierher dringt. Dass die Straße in diesem Licht ganz fabelhaft glitzert, darüber verliert niemand ein Wort.

      Noch in der Nacht verfasst Resnais seinen Bericht. Da der Tote keine Papiere bei sich hatte, ist seine Identität noch nicht eindeutig geklärt. Der Wagen ist auf Michel Descombe zugelassen, aber das muss überprüft werden. Also schickt Resnais der Frau vom Sozialdienst eine Mail, in der er sie bittet, sich mit den Eltern oder Verwandten des Opfers in Verbindung zu setzen, damit die ihn identifizieren.

      Es ist halb zwei, als er nach Hause kommt und sich zu seiner Frau ins Bett legt. Constance

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