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rasen über die Scheibe, sie sieht nur noch Licht und erschrickt. Wie eben beim Anblick des Autos. Und verliert die Orientierung. Sie schaltet erneut. Zu hastig. Die Scheibenwischer bleiben stehen. Innerhalb von zwei Sekunden sieht sie nichts mehr außer einem wilden Geprassel. Der Tod, ja … Aber doch nicht in diesem Moment. Nur zwei Stufen hoch, nicht drei … Die Zeit kann sich nicht dehnen, aber man hat manchmal das Gefühl, sie täte es. So dauert es erneut eine, vielleicht sogar zwei Sekunden, bis sie den Schalter auf Stufe zwei stellt. Als sie es geschafft hat, sieht sie, dass sie nicht mehr auf der Fahrbahn … es rumpelt schon unter den rechten Rädern, und die Bäume … Gott, wie dumm, nur ein winziger Moment, nur diese dämliche Sache mit dem Schalter für die Scheibenwischer.

      Und nun geschieht das Wunder der Gleichzeitigkeit: Sie nimmt, noch während sie ihren Alfa Romeo im letzten Augenblick vom tödlichen Baum wegsteuert … Bitte, oh Gott! … noch während sie es schafft, ihr Leben mit einer blitzschnellen Reaktion zu retten, nimmt sie wahr, dass die Rücklichter des Wagens, den sie verfolgt, sich entfernt haben. Das menschliche Gehirn kann so was: zwei Sachen gleichzeitig. Wir sind Raubtiere. Wir sind auch phantastische Fluchttiere.

      Neuer Gedanke.

      Sie hat nicht damit gerechnet, dass er flüchten würde. Sie hätte ihn nicht für so dumm gehalten. Das eben – immerhin wäre sie fast gestorben – hat sie abgelenkt, wahrscheinlich ist das der Grund. Sie wird später nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen ist, seit sie in ihr Auto stieg. An ein anderes Bild wird sie sich dafür umso genauer erinnern. Das Bild zeigt einen 40 Jahre alten orangefarbenen BMW 2002, der unter einer Traverse steht, an der starke Lampen befestigt sind, deren Licht senkrecht nach unten strahlt. In ihrer Erinnerung wird das Ganze aussehen, als hätte jemand eine weiße Schraffur über ein Foto gelegt. Second Layer. Aber erklärlich. Es regnet wie Sau.

      Wie viel Zeit? Sechs Minuten. Oder sieben. Oder nur vier? Und dass sie mit einem Scheibenwischer auf Stufe drei nicht leben konnte und deshalb fast gestorben wäre. Nun, sie lebt, aber das Geschaffte wird bald nicht mehr zählen. Und so wird sich später der unerträgliche Gedanke in ihr breitmachen, dass der Wagen, den sie verfolgte, vielleicht gar nicht beschleunigt hat, sondern dass vielmehr sie selbst, auf Grund der Irritation mit den Scheibenwischern, ein paar Sekunden lang den Fuß vom Gas nahm. Dass sie so gesehen nicht das Recht hatte, ihn zu jagen wie einen Flüchtigen. Aber das alles weiß sie noch nicht. So wenig wie sie weiß, dass sie vom ersten Moment an im Nachteil war. Die Naturgesetze, so komplex sie auch sind, lassen sich Jahr für Jahr genauer berechnen. Man kann sogar Vorhersagen treffen. Welche Entscheidung ein Mensch in einer Stresssituation trifft, ist dagegen kaum zu prognostizieren. Niemand hätte voraussagen können, dass eine Frau wie Yvonne unter diesen Wetterbedingungen, auf einer Straße mit tiefen Spurrillen, randvoll mit Wasser, nach einem gerade überstandenen Beinahecrash das Gaspedal ihres Wagens bis zum Bodenblech durchtreten würde. Aber das tut sie. Das ist die Wut, die sie nicht kennt. Da, zwischen den Bäumen! Man kann es selbst in dem dichten Regen sehen. Auch wenn ihr roter Alfa Romeo genau genommen ein Oldtimer ist, er beschleunigt noch immer sehr gut, das kleine mörderische Ding.

      Und dann … passiert etwas Unvorhersehbares, und alles kommt aufs Entsetzlichste an sie heran.

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      Da steht er. Man sieht ihn in Menschenansammlungen nur, wenn sich niemand vor ihm befindet, denn mit seinen 1,65 geht er manchmal unter. Der etwas aufgeblähte, luftgepolsterte Blouson vermittelt zwar noch immer den Eindruck, er hätte einen Bauch, doch der ist seit zwei Jahren weg, genau wie der Schnauzbart. So was kann einem Mann passieren. Auf einmal hat er eine Frau und drei Kinder, und der Bauch und der Schnauzbart … Voilà. Geblieben sind seine Ruhe und ein freundliches, rundes Gesicht mit kleinen, wachen Augen. Lieutenant Ohayon beobachtet gerade eine Gruppe Menschen, bemerkt einen bestimmten Ausdruck in den Gesichtern: verängstigt, manche auch wütend …

      Was er sieht, bringt ihn dazu, sich an etwas zu erinnern. Vor fünf Wochen waren er und seine Frau Ines in der neuen Bücherei von Fleurville und haben dort einen Vortrag über die Entwicklung des griechischen Staatswesens gehört. Da wurde ein Satz gesagt, der ihm ungeheuer wahr vorkam. Den Rest von dem, was der Referent über die griechischen Philosophen und Staatsmänner vorgetragen hatte, war ihm schon beim Verlassen des Saals mehr oder weniger entfallen. Es waren einfach zu viele kluge und komplexe Sätze gewesen. Eindeutig zu viele für ein Gehirn, das funktioniert wie seins. Aber dieser eine Satz, an den muss er jetzt denken.

      Kleine Geister werden durch Erfolge übermütig, Misserfolge machen sie niedergeschlagen.

      Ohayon hat eine recht genaue Vorstellung davon, was mit den kleinen Geistern und der Niedergeschlagenheit gemeint ist. Er selbst nennt sie übrigens immer ›kleine Seelchen‹, weil das, wie er findet, netter klingt. In den verschiedenen Disziplinen herrscht Uneinigkeit darüber, wie man sich denn so ein kleines Seelchen vorzustellen habe. Ein Pfarrer würde darunter sicher etwas anderes verstehen als ein Psychologe. Ein Ermittler – und das ist ja sein Beruf – würde, im Fall, dass die Niedergeschlagenheit des kleinen Seelchens in einer Gewalttat gipfelt, von Motivlage sprechen. Misserfolge machen die kleinen Seelchen nämlich seiner Erfahrung nach nicht nur niedergeschlagen, sie machen sie bisweilen sehr wütend. Der griechische Satz, den er in der neuen Bücherei von Fleurville gehört hat, müsste seiner Meinung nach in jedem Ermittlerhandbuch stehen, denn neun von zehn Gewaltverbrechen werden eben genau von diesen niedergeschlagenen kleinen Seelchen begangen.

      Ohayon senkt den Kopf, denkt nicht mehr an seinen Satz.

      »Florence, bitte! Jetzt schluck doch erst mal dein Würstchen runter, ich verstehe kein Wort, wenn du mit vollem Mund sprichst.«

      »Warum ist das alles aus Glas?« Ohayons Tochter kaut noch immer. Sie stehen zusammen mit vielen anderen auf einem Bahnsteig, denn der neue Bahnhof von Fleurville wird gerade eingeweiht.

      »Das ist aus Glas, weil man das heute so macht. Das ist modern.«

      »Und was ist das, modern?«

      »Was neu ist und allen gefällt.«

      »Ich finde das hässlich.«

      »Dann guck woanders hin.«

      Väter müssen so was können. Umschalten.

      »Aber wie machen die das? Entsteht das Licht im Glas?«, will jetzt Ohayons Frau wissen, auch sie isst ein Würstchen.

      »Du, also … mich darfst du nicht fragen.«

      Lieutenant Ohayon stört sich nicht im Geringsten daran, nichts zu wissen. Er ist ja auch kein Grieche. Stattdessen gibt er seiner Tochter eine Serviette und beißt dann lustvoll von seinem Würstchen ab. Wobei er darauf achtet, dass ihm nicht Senf auf den Blouson tropft. Das Würstchen hält er in der linken Hand, denn die Rechte ruht auf dem Griff des Kinderwagens, in dem die Zwillinge liegen und Gott sei Dank schlafen. Er erkennt seinen Chef, Roland Colbert. Der unterhält sich gerade mit Marie Grenier von der Spurensicherung. Sie sind alle da und in bester Stimmung. Die Einweihung des neuen Bahnhofs gleicht einem Volksfest.

      Schräg hinter Ohayon steht der Pfarrer. Er hat sich noch nicht bewegt, aber man sieht ihn jetzt, weil ein grauhaariger Mann, der ganz frappierend an Karl Marx erinnert, einen Schritt zur Seite getreten ist. Dieser falsche Karl Marx trägt einen gut geschnittenen grauen Anzug mit einer kleinen blauen Plakette am Revers. Dazu einen teuren, ebenfalls blauen Siegelring. Er scheint den Pfarrer zu kennen, denn er hat ihm gerade etwas ins Ohr geflüstert. Was hat er gesagt? Der Pfarrer sieht jetzt aus, als sei er gewillt, gleich eine wütende Stegreifpredigt zu halten. Er gehört zu der Sorte Mensch, die kategorisch denkt und beim Reden manchmal spuckt. Letzte Woche zum Beispiel hat er vor 265 Schäfchen etwas Ungeheuerliches gesagt. Auch bei dieser Predigt war Karl Marx anwesend, er saß in der ersten Reihe. Ja und da stand also der Pfarrer auf seiner Kanzel und sprach zu ihnen: ›Du magst habgierig sein so viel du willst, Gott ist genug!‹

      Gott wäre für Yvonne Clerie letztlich geschäftsschädigend, denn sie ist Psychologin. Und Psychiaterin. Die Arme! Wenn man genau hinsieht … Yvonnes Hände zittern zwar nicht, aber das liegt nur daran, dass sie das Lenkrad ihres Wagens mit aller Kraft festhält. Wäre da mehr Licht, man würde sicher ihre weißen Knöchel sehen.

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