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      Als er aufwacht, ist es fast eins. Zuerst versucht er das, was er gerade gedacht hat, zu verdrängen und wieder einzuschlafen. Er redet sich ein, er hätte geträumt, dabei weiß er genau, dass es nicht so ist. Der Gedanke im Moment des Aufwachens war bewusst gewesen und hatte einem Befehl geglichen. Er lauscht angestrengt. Als er sich sicher ist, dass seine Frau tief schläft, steht er so leise wie möglich auf und schleicht in die Küche.

      Er macht Licht. Aber auch das zaubert keine andere Realität herbei. Es gibt etwas Wichtiges zu tun, und doch hat er bis jetzt nicht den Mut aufgebracht, es zu erledigen. Er kennt sich, sein Verstand wird keine Ruhe geben. Also geht er wieder ins Schlafzimmer und holt seine Sachen. Dann schleicht er zurück in die Küche. Das alles kommt ihm richtig vor. Als er schon fast damit fertig ist, sich anzuziehen, merkt er, dass sein rechter Strumpf fehlt. Er zieht also den Schuh über den nackten Fuß. Zuletzt nimmt er im Flur seinen Mantel vom Haken, fühlt, ob die Schlüssel in der Tasche sind, und verlässt das Haus.

      Er durchquert seinen Garten auf präzise verlegten Platten aus Sandstein und folgt dann der Straße, die durch die Südpol genannte Siedlung führt. Sie beschreibt einen Kreis, wobei sie sich leicht hin und her schlängelt, damit die Autos nicht zu schnell fahren. Alle Häuser der Siedlung sind weiß. Sie sind alle zur selben Zeit im selben Stil von der selben Baugesellschaft errichtet worden, und doch wirkt jedes, auf fast schon erschreckende Weise, individuell. Es gibt keine Zäune, und die Vorgärten am Südpol sind nicht mehr als geschorene Flächen mit Büschen und Zwergbäumen, deren Laub selbst im Sommer rot und herbstlich aussieht.

      Im Moment ist allem, was er sieht, jegliche Farbe entzogen.

      Während er geht, denkt er an eine Frau. Die ist zwei Jahre jünger als er und trägt fast immer rote Kleider. Mit ihr muss er dringend reden.

      Was hindert mich …?

      Er gehört doch zu der Sorte Männer, die Frauen gefällt.

      Trotz dieser guten Voraussetzungen hat er das Gespräch immer wieder verschoben. Warum traut er sich nicht? Weil sie jünger ist als er? Weil sie schön ist? Weil so viel auf dem Spiel steht?

      Seit fast einem Jahr hat er sich immer wieder damit getröstet, dass sie früher oder später auf ihn zukommen würde. Er hätte gerne mit seiner Frau über sie gesprochen, aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Seine Frau hätte ihn ermutigt: ›Na los, Alain, trau dich!‹

      Nein, er kann nicht mit seiner Frau über sie reden, denn über manches sprechen Männer besser nicht mit ihren Frauen.

      Müsste man dieser nächtlichen Wanderung einen Titel geben, so würde er lauten: Das Gefühl, wenn man etwas unbedingt will.

      Allmählich lässt der Druck nach. Ein idiotischer Druck, denn letztlich macht er ihn sich ja selber.

      Als er nach der dritten Runde auf sein Haus zugeht, haben sich seine Gedanken geklärt. Nichts zwingt ihn, irgendetwas zu übereilen, sein Leben ist doch in Ordnung, so wie es ist. – Nun … Nicht so ganz offenbar, denn das ist nicht der erste Spaziergang dieser Art. Als er die Haustür vorsichtig aufschließt, kommt ihm ein amüsanter und auch erleichternder Gedanke: Wahrscheinlich gibt es in Frankreich hunderte, wenn nicht tausende von Männern, die zeitgleich mit ihm solche nächtlichen Wanderungen unternehmen.

      Er zieht sich gefasst und sicher auf dem Flur vor dem Schlafzimmer aus, doch als er die Tür vorsichtig öffnet, ist er wieder beunruhigt. Er stellt sich vor, dass seine Frau genau in dem Moment, wo er in der Tür steht, das Licht anmachen und fragen würde: »Wo warst du? Warum hast du deine Sachen unter dem Arm?«

      »Wo kommst du her?«

      »Geh schlafen.«

      »Wie siehst du denn aus! Und du riechst nach Benzin. Was ist passiert?«

      »Ich hatte ein Problem beim Tanken. Komm, geh wieder schlafen.«

      Nina muss nun doch lächeln. Ihre Mutter sieht aus wie ein Gespenst, in ihrem Nachthemd. Nachdem sie sie ins Schlafzimmer gebracht hat, geht Nina nach oben in ihr Studio, setzt sich im Dunkeln auf einen Stuhl.

      Das Klavier … Damit setzen die Gedanken ein, und die sind weit entfernt von den Straftaten, die sie heute Nacht begangen hat. Ist das eine Fähigkeit? Eine Ungeheuerlichkeit?

      Sich kaum eine Stunde nach einem Einbruch, wahrscheinlich einer Verdeckungstat, als Kind zu sehen, als elfjähriges Mädchen. Dabei ist sie nun wirklich kein Mädchen mehr. Nina ist 28 Jahre alt und mit ihren 1,82 groß für eine Frau. Man hat sie nach der Lieblingsschwester ihrer Mutter benannt, einer talentierten Sängerin, die es fast bis in die Oper von Paris geschafft hätte. Leider war sie mit 21 an einer schweren Krankheit gestorben.

      Diese erste Nina war bereits acht Jahre tot, als sie selbst geboren wurde, und ihre Mutter hatte ihr, ohne an irgendwelche Implikationen zu denken, den Namen der Toten gegeben. Und Klavierunterricht, denn sie war Klavierlehrerin.

      Ein komischer Gedanke macht sich in Ninas Kopf breit: Vielleicht wäre alles, was in dieser Nacht geschehen ist, nicht so passiert, wenn ich nicht musikalisch begabt wäre, wenn Mutter mich bei Familienfeiern nicht hätte vorspielen lassen, wenn sie nicht immer wieder gesagt hätte: ›Wie meine Schwester …‹

      Nina hat, seit sie mit dem Klavier begann, eine sonderbar kalte innere Haltung entwickelt. Nicht, dass sie anderen Menschen gegenüber kalt wäre, nein, sie ist sogar ziemlich lustig, wirkt auf Außenstehende verspielt und manchmal auch ein bisschen verwirrt. Aber das täuscht. Sie kann sich mühelos von sich selbst distanzieren. Man könnte auch sagen, sie ist extrem diszipliniert. Nur hat sie zum Leidwesen ihrer Mutter kein besonderes Faible für die Oper oder große Orchesterwerke entwickelt. Ein paar Jahre Keyboard in verschiedenen Bands, aber das war es nicht. Denn es gibt noch etwas, das zu ihr gehört. Etwas, das weder mit ihrer Mutter noch mit ihrer Tante zusammenhängt. Nina hat eine Schwäche für Geld.

      Also ist sie Musikproduzentin geworden, und seit zwei Jahren läuft es.

      Irgendwann steht sie auf, räumt ein paar Kinderspielzeuge zusammen und verlässt ihr Studio. Sie geht nach unten und legt sich ins Bett. Im Licht ihrer Nachttischlampe, in der Sekunde, bevor sie die ausmacht … Ein kurzes Erschrecken.

      ›Michel ist tot.‹

      Was für eine Verzögerung. Was für eine ungeheuerliche Verzögerung. Es hat fast vier Stunden gedauert, bis Yvonnes Satz in ihrem Bewusstsein angekommen ist.

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      Wenn all diese Grautöne eine Färbung haben, dann geht sie ins Grünliche. Die Qualität der Farbe unterstreicht, dass es sich um das Dienstzimmer eines Staatsbeamten handelt, einen Raum der geregelten Vernunft.

      Eine Weile steht das Bild in vollkommener Stille. So bleibt Zeit, alles in Ruhe zu erkennen und zu überprüfen. Wie es ein Inspizient oder ein Requisiteur tun würde, kurz bevor das Publikum eingelassen wird. Nun, es ist keine Bühne. Auf Ohayons Schreibtisch liegen Papiere, der Blick aus dem Fenster, das eine komplette Wand einnimmt, wäre fesselnd, wenn der konstant und dicht fallende Regen nicht alles eintrüben würde.

      Die Tür öffnet sich, es ist der Staatsbeamte.

      »Dann auf ein Neues …«, begrüßt Ohayon den anstehenden Arbeitstag ergeben und hängt seinen klatschnassen Blouson auf einen Kleiderhaken. Nachdem das erledigt ist, reibt er sich die Hände, eine Geste, die möglicherweise Vorfreude ausdrückt, und geht dabei zielstrebig zu seinem Gummibaum. Er prüft, wie feucht die Erde ist, weil man ihm mal gesagt hat: ›Nicht zu trocken, nicht zu nass!‹

      Er muss nicht gießen. Also blickt er ein paar Sekunden aus dem Fenster. Schließlich entsteht vor der einlullenden Dumpfheit des Regens eine sinnliche Vorstellung, die ein kleines Gefühl schönster Vorfreude, ja sogar eine Geruchsimagination auslöst. Ohayon befüllt also seine Kaffeemaschine und schaltet sie ein, denn jede Arbeit braucht einen guten Beginn.

      Während die Maschine anfängt zu spucken, setzt sich Ohayon an

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