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      »Du gibst mir doch nichts, was mir schadet?«

      »Ich bin Ärztin, David. Warum sollte ich dir schaden?«

      So merkwürdig hat er sich noch nie verhalten. Er hat Recht, er muss dringend ruhig werden. Oder ist sie wegen ihrer Schuld an Michels Unfall so überdreht, dass sie Gespenster sieht? Ihr Kopf arbeitet auf Hochtouren, David selbst hat sie auf einen Gedanken gebracht. Sie könnte ihm eine so hohe Dosis Beruhigungsmittel spritzen, dass er nicht mehr handlungsfähig ist. Es würde nur ein paar Minuten dauern, bis das Medikament wirkt.

      Und was, wenn er nach der Spritze einfach nur ›danke‹ sagt und verschwindet? Er ist möglicherweise mit seinem Auto gekommen. Hat er das nicht eben an der Tür angedeutet …?

      Er würde sich also in sein Auto setzen, losfahren und bei voller Fahrt einschlafen. Dann hätte sie noch ein Menschenleben auf dem Gewissen. Aber David kann doch gar nicht mehr Auto fahren, mit seinem Rücken und seinen Beinen, normalerweise fährt sie zu ihm. Yvonne bleibt stark, verweigert die Spritze, gibt ihm seine Tabletten und ermahnt ihn, in keinem Fall mit dem Auto zu fahren. Gut gemacht.

      »Komm nicht wieder hierher, ich komme übermorgen zu dir. Hast du verstanden, David?«

      Er sagt nicht mal ›danke‹. Ohne ein weiteres Wort verlässt er ihren Behandlungsraum, humpelt durch den Flur. Die Tür. Er zieht sie sogar noch zu.

      Yvonne bleibt hinter der Tür stehen und lauscht. Sie wartet darauf, dass ein Auto anspringt und losfährt. Sie ist froh, dass sie ihn nicht mit einem Beruhigungsmittel vollgepumpt hat. Und da wird ihr auf einmal klar, dass sie in ihrem jetzigen Zustand eigentlich nicht arbeiten darf. Es geht ihr nicht anders als David. Sie hat das dringende Bedürfnis, ruhig zu werden. Und so beschließt sie, noch während sie an der Tür steht, am nächsten Morgen zur Polizei zu gehen, um alles zu sagen. Sie muss lachen, und dieses Lachen ist ungeheuer befreiend. Warum ist sie auf diese einfache Lösung nicht früher gekommen? Sie wird gleich Nina anrufen, denn auch für die wird ihr Entschluss eine Befreiung sein. Yvonne geht zurück Richtung Wohnzimmer. Zunächst wirken ihre Schritte leicht, doch nach zwei Metern bleibt sie abrupt stehen. Warum zögert sie? Warum blickt sie nach oben? Direkt in den Halogenstrahler, der den Flur beleuchtet.

      Ihre Augen sind hellblau und noch nicht getrübt. Ihre Schuhe und die Kleidung, die sie wohl vor dem stetig fallenden Regen schützen sollen, so was bekommt man selten an einer Frau zu sehen. Das alles sieht so unförmig aus, dass Ohayon nicht einschätzen kann, was für Formen der Körper darunter hat. Die Haare haben exakt die gleiche Farbe wie die Wolldecke, die um sie gewickelt ist. Alles ist von Nässe durchtränkt, bildet fast eine Einheit.

      »Und Sie sind Lieutenant?«, fragt sie keck, »das ist eine hohe Position auf einer Gendarmerie. Der Cousin meines Mannes war bis vor ein paar Jahren Lieutenant in Nancy.«

      »Warum sagen Sie das?«

      »Weiß nicht, man hat ja seine Vorstellungen davon, wie so jemand aussieht.«

      »Sie waren gestern Abend draußen? Es hat stark geregnet.«

      »Ich musste. Weil ja Feuerwerk angekündigt war! Ich wollte eine Ziege in den Stall hinterm Haus bringen. Wenn’s knallt, rennt die manchmal gegen den Zaun. Die anderen stört das nicht, aber Ziegen sind eben nicht alle gleich.«

      Ohayon nickt mit einer Gelassenheit, als könne er ihren Ausführungen vollständig folgen.

      »Ich hab hingeguckt, als ich den Motor gehört habe. Wie ein Irrer ist der gefahren. Und genau in dem Moment wollte der andere, der direkt hinter dem Laster hing, dann wohl auch überholen, und dann hab ich nur noch gesehen, wie sich der Verrückte gedreht hat, zweimal ganz rum, bis er dann an dem Baum hängengeblieben ist. Der ist tot, hab ich gedacht. Aber selbst schuld, der ist gefahren, als wäre er auf der Flucht. Ist ja nicht der erste Unfall, den wir hier hatten. Drei allein in diesem Jahr!«

      »Da fuhr ein Auto hinter dem Laster?«

      »Ja.«

      »Ganz sicher?«

      »Ich habe Augen im Kopf.«

      »Wo ist der hin?«

      »Abgehauen, runter zur Rue Belleville und dann Richtung Berge. Der Wagen, der abgehauen ist, der hat noch mehr Lärm gemacht als der andere. Weil der Auspuff kaputt war, genau wie bei meinem Enkel. Bei dem klingt der Wagen auch so kaputt. Und dafür hat er noch viel Geld bezahlt, dass der so klingt wie ein Rennauto. Sollen sie sich doch totfahren, ich bin 82.«

      »Und welche Farbe hatte der Wagen?«

      »Rot. Ein roter BMW.«

      »Noch mal langsam. Ein roter BMW fuhr direkt hinter dem Lastwagen, und ein zweiter BMW hat versucht, ihn zu überholen. Zwei BMW?«

      »Genau.«

      »Das konnten Sie sehen? Ich meine, es wurde bereits dunkel.«

      »Haben Sie denn Augen im Kopf?«

      »Schon.«

      »Ich bin viel draußen. Und außerdem sehen wir Frauen sowieso viel mehr Farben als ihr.«

      »Ist das so?«

      »Ich hab nicht mehr so viel Land, wie als mein Mann noch lebte, aber …« Sie zeigt ruhig und genau. »Das geht bis da rüber, bis zur Rue Belleville. Sehen Sie da hinten die Kühe? Da vor dem Knick.«

      »Kühe? Ah ja, jetzt sehe ich.«

      »Ich bin alt, ich kann nicht jeden Abend überall hinrennen, um die Tiere zu zählen. Ich muss mich auf meine Augen verlassen.«

      »Natürlich, aber die Farben der Autos im Regen …«

      »Wissen Sie, wie viele Sorten Wolken es gibt, wie viele Farben der Himmel hat?«

      »Nein.«

      »Bei Ihnen wird es vielleicht dunkel, wenn es dunkel wird, bei mir nicht.« Ein eindeutiges Zeichen, an dem zwei Finger und ihre Schläfe beteiligt sind. »Der ihn überholen wollte, hatte seine Scheinwerfer aufgeblendet, außerdem strahlt es vom Centre Fleur hier rüber, wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist. Ich muss abends in meinem Schlafzimmer sogar die Vorhänge zuziehen.«

      »Als der Wagen anfing, sich zu drehen, war er da schon neben dem roten BMW oder noch ein Stück dahinter?«

      »Sie meinen, ob der Rote die Spur gewechselt hat und schuld ist?«

      »Genau.«

      »Das würde ich nicht beschwören. Als ich das sah, wusste ich ja noch nicht, dass mal wichtig wird, wer gerade wo ist. Laut waren sie beide und schnell.«

      Ihre Gedanken mögen anders geordnet sein als seine, aber ihre Beschreibungen und Schlussfolgerungen sind exakt. Ohayon macht trotzdem noch einige Tests mit ihr, und sie ist tatsächlich in der Lage, die Farbe der Wagen, die auf der Rue Bisson fahren, korrekt zu identifizieren. Bei der Bezeichnung der Wagentypen vertut sie sich ein paarmal.

      Zwanzig Minuten später steht Ohayon vor der Glasfront seines Büros und blickt über die Stadt.

      »Du wirst es nicht glauben!« Resnais ist aufgeregt, hat wieder nicht angeklopft. »Da ist nichts. Michel Descombe hat seinen Führerschein seit elf Jahren. Kein Unfall. Keine rote Ampel überfahren. Nie geblitzt worden.«

      »Und doch rast er plötzlich wie ein Irrer die Rue Bisson runter und überholt an einer Stelle, an der das kaum noch zu schaffen ist.«

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