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Die Frage bleibt. Freda Meissner-Blau
Читать онлайн.Название Die Frage bleibt
Год выпуска 0
isbn 9783902998088
Автор произведения Freda Meissner-Blau
Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Bookwire
Im Nachhinein erinnert mich die Atmosphäre in unserem Elternhaus ein wenig an diesen großartigen Film von Michael Haneke: Das weiße Band – auch wenn es bei uns bei Weitem nicht so schlimm war. Wir sind nie geschlagen worden. Ja, wenn wir mit dreckigen Fingernägeln zu Tisch kamen, da haben wir schon mal eins auf die Hand bekommen, aber das war das Einzige, was wir physisch einstecken mussten.
Einmal jedoch musste ich scheitelknien, eine dieser absurden Strafen, die damals üblich waren. Aber ich muss vorausschicken: Mein Vater hat sehr sozial gedacht – im gesellschaftlichen Sinne. Das war eher selten in dieser Zeit, in der man entweder oben oder unten war, dazwischen gab’s nicht viel. Wir hatten zu Hause natürlich auch ein Stubenmädchen, die Resi, die ich sehr mochte. Wenn ich irgendwelche Stickereien für die Schule nicht zusammenbrachte, machte sie sie mir. Sie servierte immer die Mahlzeiten. Einmal legte sie mir etwas auf den Teller, das ich nicht mochte, und da sagte ich: »Du dumme Kuh!« Eigentlich ganz freundschaftlich gemeint, so eben auf unserer Ebene. Aber der Papa wurde zornig. Dass ich es wage, zum Dienstmädchen »dumme Kuh« zu sagen! Das war streng verpönt. Er sagte auch immer: »Dienstboten sind nicht für euch da. Eure Schuhe putzt ihr euch selbst!« Und am Sonntagnachmittag, wenn wir mal nicht im Kürnberger Wald waren, mussten wir Kinder abwaschen und abtrocknen, damit die Mädchen früher freihatten. Damals habe ich gefühlt, das ist schon irgendwie fair, was er von uns verlangt, auch wenn ich nicht gern die Schuhe geputzt habe. Und jetzt war er so böse auf mich und sagte: »Du entschuldigst dich sofort bei der Resi, hier und jetzt!« Die Resi hat noch versucht, zu gehen, ihr war das alles unangenehm, er aber sagt: »Sie bleiben hier, der Fratz hat sich bei Ihnen zu entschuldigen!« Aber ich war trotzig: »Nein!« Ich hatte es ja auch nicht böse gemeint, aber auch das wollte ich nicht sagen oder hab’s nicht gekonnt. Da befiehlt er: »Scheitlknien, bis du dich entschuldigst!« In der Ecke lagen Holzscheitln, und auf denen bin ich gekniet. Die haben ihr Dessert gegessen, das Essen war fertig, es wurde abgeräumt, ich knie und knie und bin nicht bereit, mich zu entschuldigen. Ich glaub, es war schon vier Uhr, da kam die Resi, die dann doch wieder in die Küche gegangen war, zurück und sah mich immer noch knien. Sie fing zu weinen an. Jetzt konnte ich sagen: »Resi, verzeih!« Aus war’s, da durfte ich aufstehen. Meine Knie waren wie Wellblech.
Sie haben Ihre Geschwister ja schon kurz erwähnt. Wie war denn die Beziehung Ihrer Geschwister zum Vater?
Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, die Doris hatte so gut wie gar keine Beziehung zu ihm, sie hatte auch keine Angst vor ihm – im Unterschied zu mir. Sie war für ihn das drollige Bärlein; sie hat sich wohl weniger Fragen gestellt. Der Peter, mein älterer Bruder, hat später nach dem Tod unseres Vaters eine Art Heldenverehrung betrieben, ihm hatte wohl auch der Vater gefehlt – er selbst spielte dann so quasi den Vater, der alles gewusst habe und der so wunderbar und so unglaublich gewesen sei. Das war aber unser Vater nicht, er war ein großes Mängelwesen. Und die Marianne, meine große Schwester, war im heftigen Zwist mit ihm.
Ich werde eine Szene meiner Kindheit nie vergessen – da ging es auch um physische Gewalt. Diese Szene ist mir so haften geblieben, weil sie mich tief erschüttert hat: Wir sitzen alle beim Mittagstisch. Die Mami sitzt am oberen Platz als Hausfrau, der Papa sitzt rechts von ihr, ich sitze links von ihr, neben mir die Marianne, neben Papa der Peter und dann die Doris. Es gibt Hascheeknödel, in denen Selchfleisch drin ist, mit Salat, das mochten wir sehr. Plötzlich schiebt die Marianne ihren Teller ein bisschen weg und sagt: »Da ist kein Knoblauch drinnen.« Vorwurfsvoll. Gehört rein, sie hatte recht, in der Zwischenzeit habe ich das gelernt. Worauf die Mami still sagt: »Mir kommt kein Knoblauch in die Küche.« Und die Marianne trumpft auf und sagt: »Es gehört aber Knoblauch in die Hascheeknödel!« Worauf der Vater aufsteht und – sie war damals sechzehn oder siebzehn – ihr so eine knallt, aber so eine Watschen, ich habe die rote Hand auf ihrem Gesicht gesehen. Die Marianne hat durchgedreht. Sie schmiss sich auf den Boden und schrie. Sie hat sich nicht nur erschreckt, sondern empört, sich so gedemütigt gefühlt. Das muss sie tief verletzt haben, Marianne war ja damals schon eine junge Frau. Sie kam danach in ein Pensionat nach Wien – abgeschoben! Das war das Verhältnis von den beiden.
Insofern unterschied sich ja Ihr Elternhaus vom Milieu Ihrer Reichenberger Großeltern, in dem gar keine Emotionen oder Affekte gezeigt wurden.
Das mag sein, ja, in meiner Familie war das nicht mehr so wie bei der Großelternfamilie. Auch bei uns wurde zwar nicht viel über Gefühle gesprochen, aber sie wurden manchmal ungeniert demonstriert. Diese völlig distanzierte Haltung ist in meiner Familie verloren gegangen; die Emotionen wurden losgelassen, manchmal in erschreckender Weise – wie bei der Hascheeknödel-Geschichte. Im Nachhinein habe ich den Eindruck, dass es ein Paket von Gefühlen gegeben haben muss, das zunächst unterdrückt gewesen und dann auf beiden Seiten explodiert ist.
Aber Sie selbst waren ja, so wie Sie sich bislang beschrieben haben, emotional auch eher zurückhaltend?
Ja, den Eltern gegenüber. Aber unter uns Geschwistern haben wir uns fest gestritten, nur war ich da als Jüngste jedes Mal die Unterlegene. Das hat mein Rebellieren wahrscheinlich verzögert. Und die Mami sagte immer, wenn wir uns gestritten haben: »Aber Kinder, ihr müsst euch doch lieb haben!« Aber ich hab die nicht lieb gehabt, weder die Doris noch den Peter, und zu Marianne hatte ich kaum Kontakt. Der Peter hatte ein teuflisches Vergnügen daran, mich zu quälen, er war um so viel stärker als ich. Wir durften ihn in der Öffentlichkeit auch nicht grüßen. Er schämte sich so, dass er zwei kleine Schwestern hat. Unter Androhungen der ärgsten Folter durften wir in der Straßenbahn nicht zeigen, dass wir ihn kennen. Mit meiner Schwester Doris war ich als Kind am engsten, aber zu ihr habe ich eigentlich erst viel später ein wirklich liebevolles Verhältnis entwickelt. Unsere gemeinsame Flucht nach dem Krieg hat uns sehr verbunden. Dadurch ist so viel Anteilnahme entstanden, die ich sonst in meiner Familie kaum kannte. Sie lebt ja schon seit vielen Jahrzehnten in den USA, aber bis heute telefonieren wir jeden Sonntagabend. Um acht Uhr am Sonntagabend muss ich zu Hause sein, da sage ich alles andere ab.
Mit meiner Schwester Doris telefonieren wir bis heute jeden Sonntagabend.
Aber von einer glücklichen Kindheit kann ich nicht unbedingt reden.
Was immer eine glückliche Kindheit sein mag …
Ich habe zumindest im Laufe der Zeit eine Vorstellung davon bekommen, was eine glückliche Kindheit sein könnte. Vielleicht romantisiere ich ein wenig, vielleicht projiziere ich da etwas hinein, aber mir fällt meine Freundin Gaigai ein – später werde ich noch mehr über sie erzählen. Gaigai kommt aus einem sehr glücklichen Elternhaus. Sie ist auf der Pfaueninsel in Berlin aufgewachsen, ihr Vater war dort Gartenarchitekt und dadurch viel präsent. Wunderschön! Sie hat mich einmal vor vielen Jahren mit hingenommen. Ihr Elternhaus muss unglaublich harmonisch und liebevoll gewesen sein, mit vielen Tieren, Lyrik und Natur.
Dazu fällt mir ein: Als wir in Wien in der Argentinierstraße gewohnt haben, musste ich als Zwölf- oder Dreizehnjährige, nachdem ich eine Rippenfellentzündung fast überstanden hatte, immer im Park beim Palais Schwarzenberg spazieren gehen, weil mein Mutter sagte: »Das Kind muss an die Luft.« So bin ich immer allein in den Park gegangen und habe mich gar nicht wohlgefühlt – und auf einmal war da doch tatsächlich ein Exhibitionist. Hinter der Hecke ist der mir nachgeschlichen. Ich hatte panische Angst. Aber glauben Sie, ich wäre auf die Idee gekommen, das meiner Mutter zu sagen? Das war völlig undenkbar. Also hatte ich immer Angst, wenn ich in den Park gegangen bin. Viele Jahre später gehe ich mit meiner Freundin Gaigai in Paris im Bois de Boulogne spazieren. Wir finden ein Wiesenstück mit Bäumen rundherum, setzen uns dort hin und essen eine Baguette. Dann sagt sie, sie war ja eine phantastische Zeichnerin: »Geh, lehn dich gegen den Baum, ich will dich zeichnen.« Die Zeichnung habe ich bis heute noch. Ich habe die Augen zugemacht, mich gegen den Baum gelehnt und geträumt, und sie hat gezeichnet. Und in einem