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Die Frage bleibt. Freda Meissner-Blau
Читать онлайн.Название Die Frage bleibt
Год выпуска 0
isbn 9783902998088
Автор произведения Freda Meissner-Blau
Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Bookwire
Später bin ich auch noch geritten, das war schon in der NS-Zeit, dann wurde das aber als vormilitärische Ausbildung deklariert und wir Mädchen durften ab 1943 nicht mehr. Und, stellen Sie sich vor, ich habe Segelfliegen angefangen, das war wirklich mein großer Traum. Ich habe sogar noch die A-Prüfung machen können. Das hätte ich geliebt! Aber dann hieß es wieder: Das dürfen Mädchen nicht. Also ich spürte damals schon Freiheiten in mir, aber das meiste kam erst in der Pubertät, als mein Vater uns schon verlassen hatte.
Welche Bedeutung hatte in dem bildungsbürgerlichen Umfeld, in dem Sie aufgewachsen sind, das Lesen, hatten für Sie bestimmte Bücher?
Beim Lesen war ich immer in einer anderen Welt, und das war nicht die Welt der anderen. Sehr viele Tierbücher habe ich damals gelesen; auch den Hermann Löns, den man heute sehr kritisch sehen kann, liebte ich sehr. Die Biene Maja und diese ganzen Sachen habe ich verschlungen. Mädchenbücher konnte ich zu Hause gar nicht lesen. Da haben sie mich verhöhnt, auch mein Bruder hat mich ausgelacht, wenn ich Trotzkopf und Nesthäkchen las, die ich so geliebt habe. Und lange, lange Jahre waren Märchen und Sagen eine Hauptlektüre von mir. Sie sind mir geblieben, auch der Robinson Crusoe, die Riesen und die Zwerge. Das war ganz wichtig für mich, diese Vorstellung der Verschiedenheit der Menschen, und die Mystik in den Märchen. Da lernt man noch, wenn man selbst älter wird und Kinder hat, von den Kindern so viel.
In Wien, ca. 1937
Zum Beispiel?
Ted, meinem ältesten Sohn, musste ich immer wieder die Hänsel-und-Gretel-Geschichte erzählen oder vorlesen. Er war fünf oder sechs Jahre alt, als er plötzlich zu weinen anfing. »Was ist los, Ted?«, fragte ich. Da sagt er: »Mir tut die arme Hexe so leid. Hänsel und Gretel lügen sie immer an und stecken da ein Hölzchen hin und zeigen gar nicht ihre Finger.« Gerade das ist ja das Interessante an Kindern, dass sie Dinge sehen, an denen man selbst immer vorbeigegangen ist. Kinder können querdenken, wenn man sie lässt. Und festhalten an einer Welt, die sie haben wollen, und da glauben sie eben noch ans Christkind oder an den Weihnachtsmann, auch wenn sie eigentlich wissen, dass es die gar nicht gibt. Darauf kommt’s auch nicht an. Es muss ein Phantasiebild sein. Ich halte das für so wichtig. Wir lernen beispielsweise über Märchen, mit Schmerzen oder Ängsten fertigzuwerden. Ich selbst habe mich als Kind geängstigt für diese zwei Kinder, die sich verirrt haben. Ich habe das damals nicht verstanden, ich hatte immer einen ausgeprägten Orientierungssinn in der Natur, und habe mich gefragt: Wie können Hänsel und Gretel sich verirren, die müssen doch die Wege gekannt haben, diese Kinder, was ist denn los mit denen?
Dann fällt mir noch eine Geschichte ein, wo ich mir einen verwunschenen Prinzen phantasiert habe. Ich wollte wahnsinnig gerne Rad fahren. Der Einzige von uns, der ein Fahrrad – und zwar ein Steyr-Waffenrad – bekommen hat, war natürlich mein Herr Bruder. Er war damals fünfzehn und ich war sieben. Einmal durfte ich nachmittags zu Hause bleiben, denn ich hatte angeblich Halsweh. Der Peter war in der Schule, so habe ich mir sein Waffenrad geschnappt. Über die Stange konnte ich natürlich nicht drüber, bin also unten durch und losgefahren. Wir haben in Linz auf dem Bauernberg gewohnt, und am Römerberg war damals die einzige wirklich gut asphaltierte Straße, eine Serpentine. Ich bin diese Serpentine, die ziemlich steil war, jeden Tag von der Schule hinaufgegangen. Nun bin ich dort mit dem Fahrrad runtergesaust. Und dann, ich konnte ja noch nicht anständig Rad fahren, bin ich am Trottoir angestreift und geflogen, über das Rad drüber. Ich hatte ziemliches Weh, lag zuerst ganz benommen da und dann vor allem der Schreck – das Rad! Ich hab gesehen, es ist verbogen. Damals gab’s dort einen alten Mann, der immer mit einem Leiterwagen unterwegs war und die Pferdeäpfel und das Laub gekehrt hat. Er hatte, ich erinnere mich noch genau, nur einen Zahn oben. Er kam gerade in dem Moment, wo ich daliege. Er wusste natürlich genau, wo ich wohne, schmeißt mich auf seine Pferdeäpfel und sein Laub drauf, wirft das Rad über mich und führt mich, blutend, nach Hause. Und wie der mich so rettet, denke ich mir: Das ist gar kein Straßenkehrer, das ist ein verwunschener Prinz. Ich fand seinen einzelnen Zahn hochinteressant, er hat mich fasziniert. Ich siebenjähriges Mädchen habe mich hemmungslos in diesen verwunschenen Prinzen verliebt. Aber nachdem ich auch den Froschkönig gelesen hatte, dachte ich mir: Na hoffentlich muss ich dem keinen Kuss geben.
Wissen Sie, wenn ich jetzt von all dem erzähle, was ich in meiner eher zerrissenen Kindheit erlebt habe, fällt mir auf, was ich damals womöglich Positives daraus gezogen habe. Ich glaube, ich habe damals gelernt, allein sein zu können. Damals war ich oft froh, wenn ich nicht von irgendwas oder irgendjemandem bedrängt wurde.
Stichwort »bedrängt werden«: Sie erlebten Ihre Kindheit in Linz zu einer Zeit, in der das damalige politische System, der Austrofaschismus der 1930er Jahre, etwas Bedrängendes haben konnte. Wie haben Sie das erlebt?
Sie dürfen nicht vergessen, damals ist Linz das Schwärzeste und Provinziellste gewesen, was man sich vorstellen kann. »Linz an der Tramway«, hieß es, denn das Einzige, was Linz hatte, war eine Tramway. Wie hat man damals noch gesagt? Linz ist ein Mostschädelnest. Das hatte schon etwas Verächtliches.
Es gab eine starke Dominanz der katholischen Kirche. Was heißt Dominanz? Österreich war damals klerikal-faschistisch, die Kirche und die Regierung haben regiert, vor allem die Kirche. Das war spätestens seit den Februarkämpfen 1934 so. Als die in Linz losgingen, bekam ich die Schießereien mit. Gerade in Linz war es dramatisch. Ich – noch nicht einmal sieben Jahre alt – habe aber natürlich nicht verstanden, wer da gegen wen kämpft, das hat mir kein Mensch erklärt. Mir wurde nur gesagt, ich dürfe nicht aus dem Garten raus und nicht auf die Straße. Aber mein Bruder lehrte mich, wenn Heimwehrler mit dem Hahnenschwanz am Hut vorbeikommen, mich hinter einem Busch zu verstecken und laut »kikeriki« zu rufen – meine erste politische Aktion!
Ich selbst bin ja in einer Familie aufgewachsen, die nicht anti-religiös, sondern die areligiös war. Das heißt: Religion hat bei uns keine Rolle gespielt, man hat nicht gebetet, man hat nicht darüber gesprochen. Aber dann machte ich meine eigenen Erfahrungen in diesem stockkatholischen Linz, als ich in die Schule kam. Da kommen jetzt Bilder, Bilder, Bilder, ich kann gar nicht so viel reden, wie die Bilder jetzt auf mich einstürmen.
In der Volksschule hatte ich sofort Religionsunterricht, und Religion war für mich etwas völlig Neues. Wie jedes Kind habe ich zugehört, habe aber vieles nicht verstanden. Das fing schon in der zweiten Klasse an, als von der Unbefleckten Empfängnis geredet wurde. Ich hatte keine Ahnung, wovon der Religionslehrer, der auch Pfarrer war, spricht, denn ich kannte nur Flecken und wusste, dass man dafür Fleckenwasser braucht. Wir hatten immer welches zu Hause, weil wir uns als Kinder ja gerne angepatzt haben. So habe ich den Religionslehrer gefragt: »Wie war denn das mit der Unbefleckten Empfängnis? Wo waren denn die Flecken?« Ich war ja durchaus ein neugieriges und aufgewecktes Kind. Da sagt er mir, wie unartig ich sei, schickt mich in die letzte Bank, und ich hätte keine Fragen mehr zu stellen. Ich setzte mich in die letzte Bank und war dort eigentlich sehr zufrieden, weil ich unter der Bank lesen konnte, das hat niemand gesehen. Ich habe meinen Dr. Dolittle gelesen und auch die Mädchenbücher, die ich zu Hause verstecken musste.
Ein Jahr darauf kam die Erstkommunion. Es ist merkwürdig, wie wach diese Erinnerung in mir noch ist, wie sehr mich das geprägt hat, diese scheinbaren Äußerlichkeiten, die aber etwas Gewalttätiges haben. Da passierte Folgendes: In der Schule wurde