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Die Frage bleibt. Freda Meissner-Blau
Читать онлайн.Название Die Frage bleibt
Год выпуска 0
isbn 9783902998088
Автор произведения Freda Meissner-Blau
Жанр Афоризмы и цитаты
Издательство Bookwire
Die fünf Söhne und Töchter meiner Großeltern, v. l. n. r.: Hannah (»Froschi«), Wilhelm, Änni, Harry, »Mimikatz« (ca. 20 Jahre alt)
Jahrzehnte später, es ist noch gar nicht so lange her, war ich zum Evangelischen Kirchentag in München eingeladen, um über die Donau zu sprechen. Nachher gehe ich aus dem Zelt raus, es war ein strahlender Tag, gehe in der Hitze herum, bin ein bissel abgeschlafft, sehe eine Bank, wo einer sitzt. Ich denke mir noch: Will ich mich dazusetzen? Ach Gott, ich setz mich einfach hin. Und ich sag: »Entschuldigen Sie …« Da schaut er mich an und fragt: »Bist du nicht die Tante Freda?« – »Nein, ich bin keine Tante. Aber ich bin die Freda, meinst du die Freda Meissner?« – »Ja, ja.« Dann stellt sich heraus: Er ist ein Enkel der Tante Hannah, der Froschi, ein Architekt aus Kiel. Das war ein richtig nettes Treffen, wir saßen stundenlang und erzählten – und haben uns dann nie wiedergesehen.
Ich möchte noch etwas über diese Tante Hannah erzählen: wie es dazu kam, dass sie überhaupt Enkelkinder bekommen hat. Das sagt auch einiges über meine sozialen Wurzeln oder das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin. Diese Tante Hannah war das Fröschlein bzw. die Froschi, weil sie ganz zart war und den ganzen Hals voller Akne hatte. Damit hatte sie keine guten Heiratsaussichten, die auch standesgemäß gewesen wären. Eines Tages wurde sie auf eine Ägyptenreise geschickt – mit einer Chaperon.
Eine Chaperon? Was ist eine Chaperon?
Kennen Sie nicht mehr die Institution der Chaperon? Eine Chaperon ist eine Anstandsdame, die – wie soll ich sagen – die Konvention aufrecht erhält, eine Dame, meist aus verarmtem Adel, die eine jüngere Person aus guter Familie begleitet, damit ihr nichts zustößt. Auf gut Deutsch: damit sie keinen ungehörigen Flirt anfängt oder Ähnliches. Aber auf der anderen Seite hätte man die Froschi schon ganz gern verheiratet, trotz oder wegen der Akne. Sie fährt also nach Ägypten – das war damals eine exklusive Unternehmung – und lernt dort tatsächlich auf einem Nildampfer einen jungen Deutschen kennen: Hans Poser, damals schon Doktor Hans Poser. Er hatte Geografie studiert. Nach der Ägypten-Reise kam er und hielt um Froschis Hand an. »Sein Vater ist Gärtner«, sagte die Großmama noch, »ein G-ä-r-t-n-e-r!« Aber weil die Froschi keine großen Chancen hatte, wurde die Heirat genehmigt, obwohl die Eltern »nur« Gärtner waren. Ich fand das toll, denn seine Eltern waren ganz urige, nette Leute. Sie kamen zur Hochzeit, daran erinnere ich mich gut, obwohl ich noch klein war. Dieser Hans Poser zog dann mit Froschi nach Göttingen, wo er an der Universität ein bedeutender Grönlandforscher wurde.
Die Gärtner waren ja überhaupt für mich eine wichtige frühe Erfahrung.
Wegen der Natur oder …?
Nein, nicht was Sie jetzt vielleicht glauben. Sondern: Auf der Alm, bei dieser Holzvilla, gab es einen Gärtnerburschen, der für meine Großeltern gearbeitet hat. Er war ein Tscheche, der schlecht Deutsch konnte. Ich hab ihn ein bissel verehrt, er war so etwas wie meine erste Liebe, natürlich heimliche Liebe, was immer Liebe heißt, wenn man gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt ist. Eines Tages arbeitete er wieder auf der Alm, auf der Böschung. Meine Großmutter ist auch da – diese äußerst gestrenge, selbstbewusste und mächtige Frau, vor der ich immer etwas Angst hatte. Sie steht hinter dem Rhododendron, tritt hervor, und sie spricht zu ihm herunter. Streng sagt sie zu ihm, was er zu tun hat, und nicht dort soll er arbeiten, sondern das soll er machen. Er nimmt seine Kappe runter, beugt demütig den Kopf und sagt: »Ja, vážená paní!« »Gnädige Frau«, heißt das. Ich hätte heulen können. Ich wollte ihm sagen: »Steh gerade, mach das nicht!« Ich wusste, er war bettelarm, es waren so viele bettelarm in den 1930er Jahren. Diese Unterwürfigkeit hat mir damals sehr wehgetan.
Nach einigen Wochen war er verschwunden. Sie hat ihn wahrscheinlich gekündigt. Ich konnte ihn nicht vergessen, und so habe ich das Stubenmädchen nach ihm befragt. Ich erfuhr, dass er ins tschechische Militär in die Kaserne in Znaim einberufen worden war. Ich bekniete dann den Chauffeur meiner Großeltern, der uns von Reichenberg nach Linz fuhr, wo wir damals schon wohnten, einen Umweg über Znaim zu fahren. Wir fuhren an der Kaserne vorbei. In meiner Naivität habe ich geglaubt, er steht da und wartet, bis wir kommen. Es war spät am Abend, und natürlich war kein Mensch auf der Straße, also null Erfolg, ich habe ihn nie wieder gesehen. Aber damals kam mein Schmerz über Unterdrückung erstmals auf, zugleich habe ich so etwas wie eine Revolte gegen meine Großmutter in mir gespürt. Ich habe zumindest innerlich gegen sie revoltiert. Denn wie kann sie so zu ihm sprechen, dass er so demütig den Kopf beugt?
Revolte, Rebellion … Gab es in dem Milieu, in dem Sie aufgewachsen sind, womöglich auch in Ihrer Verwandtschaft Personen, die ein Gegenbild zu den strengen Konventionen dargestellt hätten?
Ja! Ich hatte ja noch einige andere Tanten und Onkel, nicht nur die Froschi. Und eine dieser Tanten habe ich bewundert und geliebt. Sie hatte große Schwierigkeiten mit ihrer Mutter, die ja eben meine Stiefgroßmutter war. Sie war eigentlich eine Rebellin. Denn diese Tante Änni hatte verschiedene Liebeleien, und das war ja etwas völlig Verbotenes. Es wurde immer bloß so leise gesprochen, geflüstert. »Da in Innsbruck«, hieß es immer, sie hatte jemanden in Innsbruck. Ich habe natürlich nie die Details erfahren. Änni war relativ groß, hatte einen freien Gang, trug ihre Haare kurz und ein bissel wild. Wenn sie gelacht hat, habe ich immer an eine Löwin mit strahlenden Augen gedacht. Wir haben Ausflüge zusammen gemacht. Die schmiss sich in jeden Tümpel. Das habe ich von ihr; ich kann kein Wasser sehen, ohne hineinzuhupfen. Sie strahlte und rief: »Was für ein wunderschöner Nachmittag!« Und: »Ach, das war so herrlich mit euch«, und hat die Arme ausgebreitet, »es war so herrlich mit euch!« Also, sie war ein leicht ekstatischer, aber ein herrlicher Mensch. Da fiel sie in unserer Verwandtschaft völlig aus der Reihe. Und sie war auch geistig so lebendig.
Ihre Jugendliebe durfte sie nicht heiraten, sondern musste einen Industriellen aus Gablonz ehelichen, der eine Porzellanfabrik hatte. Damals war’s halt noch so. Die Mädchen haben sich in ihrer Abhängigkeit und ihrem fehlenden Selbstbewusstsein gefügt. Ein paar Jahre später hätte sie es denen vermutlich gezeigt. So musste sie diesen Industriellen, einen Otto Dressler, heiraten. Sie gingen nach Berlin, wo er eine Porzellanfabrik und eine Villa in Schlachtensee hatte. Dort wohnten sie und bekamen zwei Buben. Das war herrlich für uns: Denn wenn die beiden Cousins im Sommer zu den Großeltern auf die Alm kamen, waren die noch viel ungezogener als wir. Der kleine wunderhübsche Harry, der in meinem Alter war, stotterte. Die Ehe muss gespensterhaft gewesen sein. Eines Tages verließ sie ihn. Und was macht damals eine Frau, die ihren Mann verlassen hat, von dem sie materiell – ja, in jeder Hinsicht – abhängig war? Sie geht zurück zu den Eltern. Das kann nicht gut gehen. Der Große blieb beim Vater, der Kleine wurde mitgenommen, stotterte immer mehr, und der Vater hetzte den Großen gegen die Mutter auf. Und Änni stand unter der Fuchtel von meiner Großmutter. Und da begann sie scheinbar eine Liebschaft mit jemandem in Innsbruck.
Später ist sie nach Berlin zurückgegangen, weil ihr Mann Tuberkulose bekam. Im Krieg sind sie in den Westen geflüchtet, wohnten in einer Dachkammer in einem Dorf im Siegerland in Westfalen. Ich studierte damals in Frankfurt und habe sie einmal dort besucht. Der Onkel Otto lag im Bett, ganz weiß, er ist auch bald danach gestorben. Dann