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ich mich bei ihr noch anhalten. Die würde sicher sagen: »Geh, gnädige Frau, lassen Sie das Kind, das kommt schon.« So habe ich mir jedenfalls eine Krisensituation vorgestellt – die Lehrerin unterstützt mich gegen die strenge Mutter.

      In Sölden wohnten wir auf zwei Zimmern im Hotel Post. Dort waren auch SS-Offiziere und an die 100 KLV-Buben untergebracht, von der Kinderlandverschickung. Es handelte sich um Berliner Buben. Aus diesen rekrutierte sich mein allererster Verehrer. Er hieß, zum Gaudium meiner Familie, Hasemann, und hat mir irgendwann, irgendwo dort oben im Ötztal gesagt, wenn wir größer seien, könnten wir heiraten. Er hat sich unsere gemeinsame Zukunft ausgemalt. Man muss dann eben heiraten, sagte er. Das leuchtete mir ein. Eines Tages brachte er mir einen Ring mit, ein verbeultes Etwas, auf das die Mariazeller Muttergottes gemalt war. Dieses Ding hatte er wohl dort auf dem Wäscheplatz, wo wir uns trafen, ausgegraben, es dürfte von irgendeinem Wäschestück heruntergefallen sein. Meine Familie höhnte über diesen Ring, den ich trotzdem oder gerade deshalb lange Zeit sehr in Ehren hielt. Es war mir egal, dass Hasemann für die anderen dann nur mehr eine Lachnummer war, für viele Jahre. Mariazell half da gar nichts dagegen. Ich aber finde noch immer, dass ich als Frau damals früh angekommen war.

      Diese acht- oder neunjährigen Buben wurden von einem LAMA kommandiert, einem Lagermannschaftsführer. Der war bereits 17, ein schöner blonder Knabe. Sämtliche Damen, von den Bauernmadeln bis zu den Putzfrauen, waren in den verknallt. Ich nicht. Meine Schwester und ich fanden den irgendwie nicht so toll. Das Stichwort lautete immer: »Es ist Krieg.« Beim Frühstück mussten die Buben »Wir danken unserem Führer« skandieren, diesen Chor habe ich noch immer im Ohr. Aber damals wusste ich weder, was ein LAMA, noch, was ein Führer war. Der erschien doch nie bei uns in Sölden, der war höchstens ein Bild an der Wand in der Schule. Man sagte uns nur, dass es in Hitlers Berlin, der Reichshauptstadt, sehr gefährlich sei, dass dort noch mehr Bomben als in Wien fielen und die Buben deshalb hierher nach Sölden gekommen seien. Wir hatten kaum Kontakt zu ihnen, sahen nur, wie sie an einem Wäscheplatz des Hotels Ball spielten. Was sie sonst gemacht haben, blieb uns verborgen. Ruckzuck marschierten sie in Zweierreihen durch die Dorfstraße, und weg waren sie. Bald waren sie ganz in Richtung Vent verschwunden.

      Da oben in Sölden wussten wir kaum über die Vorkommnisse in Wien Bescheid, nur, dass ein Teil der Familie ausgebombt war. Dann aber kam plötzlich ein Cousin von uns um die Ecke gebogen. Otto war ein Neffe meiner Mutter, in voller Kriegsmontur der Wehrmacht tauchte er in den letzten Kriegstagen bei uns auf. Irgendwie hatte er erfahren, wo sich Onkel und Tante aufhielten. Er hat sich nach Sölden durchgeschlagen. Wir Mädchen flogen auf diesen nicht einmal 20-Jährigen zu, den einzigen greifbaren männlichen Verwandten in jüngerem Alter. Unser »Burschi«, der einzige Mann in der Familie Wessely, musste dann aber wieder weg. Immerhin konnte er uns etwas Beruhigendes sagen: Er müsse jetzt nicht mehr an die Front. Otto hat überlebt und wurde Buchhändler. Er hat noch bei Prachner gelernt. Später wurde er sogar Chef des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels.

      Als Neunjähriger sagten mir der Krieg und seine Geschichte fast gar nichts. Es gab kein Kino, das war für uns Kinder schwer verboten, Fernsehen gab es noch überhaupt nicht, auch Radio hörten wir zuerst in Sölden fast gar nicht. Erst langsam begannen mich die Nachrichten zu interessieren, verstanden habe ich sie aber nicht. Die großen Radioerlebnisse fingen für mich erst einige Zeit später in Wien an. Aber selbst da war Zeitunglesen für uns Kinder bei den Eltern noch immer schwer verpönt.

      Dass der Krieg vorbei sei, erfuhr ich Mitte Mai 1945 in Sölden, die konkrete Situation ist für mich eine bleibende Erinnerung. Von der Volksschule ging ich zum Hotel, meine Mutter saß davor. Mit stolzgeschwellter Brust, als ob ich einen Römischen Einser erhalten hätte, bin ich zu ihr und habe gesagt: »Mami, der Krieg ist aus!« Es hat mich peinlich berührt, dass sie sofort in Tränen ausgebrochen ist, mich genommen und wirklich geschluchzt hat. Meine Mutter, die in der Öffentlichkeit weint!

      Sie war natürlich aus vielen Gründen erleichtert. Einer der wichtigsten: Nachdem mein Onkel Paul verhaftet und zum Verhör zur Gestapo auf den Morzinplatz gebracht worden war, haben sie meinen Vater Attila, der zuvor vom Militär »uk« (unabkömmlich) gestellt worden war, in den letzten Kriegswochen in den Volkssturm gesteckt, wohl aus Sippenhaft, ins letzte Aufgebot vor dem Untergang der Nazi-Diktatur. Er musste hinauf in die Berge, um irgendeinen Pass zu verteidigen.

      Die Reaktion meiner Mutter war interessant: »Stellt euch vor, der Vater war doch immerhin Leutnant«, sagte sie, und meinte natürlich: im Ersten Weltkrieg. »Und jetzt muss er als Gemeiner dem Dienstmädel den Kasten runtertragen.« Das sah meine Mutter als Degradierung erster Klasse.

      Vater hatte am 21. April Geburtstag, und er kriegte tatsächlich Urlaub. Als er im Hotel dort oben in Sölden erschien, wurde er vor allem von den reiferen Damen umschwärmt. Frau von Rossi, eine Verwandte des Hotelbesitzers Riml, hatte auf meinen Vater ein leises Flugerl. Raffiniert, wie er war, nährte er diese Gefühle. Und schon erklärte sie bei seiner Ankunft: »Der Hörbiger kriegt eine Torte!« In diesen letzten Kriegstagen war die gar nicht so leicht zu besorgen. Doch Frau Rossi zauberte ein enormes, fettreiches Ding hervor, aus bester Bauernbutter vor allem, mit Schokolade gefärbt, sogar Kerzen drauf. Vater war nicht nur hingerissen, sondern auch ausgehungert. Er schlang diese Torte runter und hatte prompt einen Gallenanfall. Der Herr Doktor Praxmarer wurde gerufen. Er kam mit seiner Beiwagenmaschine herbei wie ein rettender Engel und verordnete: »Attila, du gehst mir nimmer mehr aufi und bleibst do, es is eh bald aus.« Da lag Vater mit seinem Gallenanfall tatsächlich bis Kriegsende, weil Herr Dr. Praxmarer ihn einfach nicht mehr gesundschrieb.

      Kurz danach hieß es bereits: »Die Akrimaner kommen.« Jedenfalls haben wir Kinder das so verstanden. Wir hatten keine Ahnung, ob das jetzt ein wilder Stamm aus Neuguinea oder sonst wo war. In Geografie und Heimatkunde waren wir noch lange nicht über Tirol hinaus, das höchste der Gefühle war, wenn man das Wipptal zeichnen konnte. Wichtig war der Lehrerin, wo in der Umgebung von Innsbruck Urgestein, wo Kalkgestein lag, das musste man immer wissen. Dass aber jenseits des Atlantiks die Amerikaner lebten, wusste ich noch nicht.

      Jetzt waren sie da und brachten die Befreiung. Die Szene in Sölden ist mir in meine innere Netzhaut eingebrannt. Ich sitze im ersten Stock am Fenster und schaue auf den Dorfplatz hinunter. Der Schwiegervater des Hotelbesitzers, der alte Herr Weilguni, der sich schon ein bisschen schwertut, geht von der Hoteltür, es war nicht weit, bis ans Ufer der Ache, die im Mai voller Schmelzwasser und sehr wild ist. Herr Weilguni hat etwas unterm Arm, schaut links und schaut rechts, es ist niemand da, holt aus und schmeißt dieses Etwas, das er da hinübergetragen hat, in hohem Bogen in die Ache. Es ist ein Hitlerbild, aus dem Hotel. Dort sah man dann nur noch blass ein Viereck, wo zuvor ein Bild vom Führer gehangen hatte. Es wurde sehr rasch durch ein Kreuz ersetzt. Das haben wir selbst als Volksschulkinder mitbekommen: Hitler ging baden, jetzt konnte es wieder sein wie früher. Auch in der Schule hing wieder das Kreuz, als wäre es nie weg gewesen, beinahe jedenfalls, denn umrahmt war es von der blassen Lücke, die Hitler hinterlassen hatte.

      Damit war die Sache auch für die Kinder klar, sie sollten wissen, wo es langgeht, wenn die »Akrimaner« kamen. Wir Gäste aus Wien mischten uns mit Vergnügen unter die Dorfjugend, denn das war viel lustiger, als im Hotelzimmer die Aufgaben zu machen. Und schon kamen sie an. Die »Akrimaner« waren in Tirol, angeblich nur deshalb, weil General Patton den Plan verwechselt hatte. Er sollte eigentlich nach Stuttgart, ist aber ganz woanders hin geraten, in die Berge, und irgendwie haben sie sich alle nicht so deutlich vorstellen können, wie hoch unsere Alpen sind. Sie zogen etwas später weiter, weil Innsbruck schon von den Franzosen erobert worden war. Marokkaner haben wir sie genannt, weil viele ihrer Truppen aus Nordafrika kamen.

      In Sölden fuhr zuerst jedoch die US-Army mit dem Jeep ein. Vorne stand ein Sergeant im offenen Fahrzeug, vor sich am rechten Kotflügel eine Hitlerbüste. Die küsste er, dann schmiss er sie vor der Dorfjugend in die Ache. Noch einmal ging Hitler baden. Wir Kinder fanden das natürlich toll. Das ist mein bleibender Eindruck von der Befreiung.

      Diese Amerikaner in ihrer Montur waren plötzlich für uns nicht mehr Wesen von einem anderen Stern. Wir haben zwar nicht verstanden, was sie sprachen, aber sie haben uns auch nicht verstanden. Sie deuteten, gaben Klapse, neckten uns. Kurz: keine Verständigungsschwierigkeiten. Dann stellten sie einen großen, beheizbaren Kessel auf und warfen Schokoladebarren

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