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nur zwei Hotels – das zur Sonne und das zur Post. Sie existieren noch heute. Damals war der Ort wirklich überschaubar: Kirche, Schule, die zwei Hotels und ein einziger Arzt, Dr. Praxmarer, der über der Ache drüben wohnte, einem schnellen, wilden Bach, und mit der Beiwagenmaschine die Weiler abfuhr, die Kinder auf die Welt bringen half, die beim Bergsteigen Gestürzten versorgte – der einzige Arzt weit und breit.

      Für uns Mädchen fing der Ernst des Lebens mit der Schule an. Meine Mutter hatte ursprünglich Lehrerin werden wollen, sie schwärmte von der guten Glöckel-Schule, in die sie gegangen war. Otto Glöckel war jener sozialdemokratische Wiener Kommunalpolitiker, der nach dem Ersten Weltkrieg in Wien Schulreformen eingeführt hatte. Das Reformpägdagogische brach auch ein bisschen bei unserer Erziehung durch. Wenn wir zum Beispiel in den Wald gingen, um Preiselbeeren zu brocken, hat meine Mutter mich das kleine Einmaleins abgefragt. Ich empfand das als grauslich, weil ich es wirklich nicht konnte. Wie ungerecht dachte ich, es wäre doch eigentlich Freizeit, wenn man zum Beerenbrocken geht. Aber meine Mutter, die beruflich sehr beschäftigt war, hatte dann eben gerade Zeit dafür. Sie hat diese Art des Lernens im Wald gegen meinen Protest, dass hier in der Natur doch keine blöde Schule sei, konsequent durchgedrückt. Ich tat mir schwer bei dieser Rechenarbeit – nicht auszudenken, sie hätte sich ans große Einmaleins getraut, da wäre es überhaupt zappenduster gewesen. Solche Exkursionen waren also für mich kein Honiglecken, und bei Preiselbeeren denke ich immer an Zahlen. Meine Mutter konnte hervorragend Kopfrechnen, wie das von einem Kind aus einem Geschäftshaushalt zu erwarten war. Ich hingegen habe auf diesem Feld eine Antibegabung, schon damals bereitete mir das Rechnen Magenbeschwerden.

      Damals war meine Mutter schon mit meiner jüngsten Schwester Maresa schwanger. Christiane und ich wussten das natürlich nicht, Mami war eben ein bisschen dick geworden. Maresa wurde nicht in Sölden, sondern in Seefeld auf die Welt gebracht, in einem SS-Lazarett, das sei die beste Möglichkeit gewesen, hat meine Mutter später gesagt und die Situation so geschildert: An ihrem Bett standen eine Nazi-Krankenschwester und eine katholische. Die haben sich irgendwie nicht ganz über der gerade entbunden Habenden gefunden, aber Maresa ist gesund auf die Welt gekommen. Sie wurde aus dem mütterlichen Bauch durch einen Militärarzt hervorgeholt, der nur mehr mit leichtem Alkoholspiegel seinen Beruf ausüben konnte. Es ging aber alles gut, vor allem auch mithilfe der zwei sehr unterschiedlichen Schwestern.

      Wir Kinder lebten zu dieser Zeit in Sölden im Hotel und wussten noch gar nichts vom neuen Nachwuchs. Dann aber hat uns Vater, der angezogen zum Weggehen auf dem Ehebett lag, ins Zimmer gerufen, uns beide genommen, neben sich gelegt und gesagt: »Ihr habt jetzt ein kleines Schwesterlein!« Da haben wir »Iiihh« gemacht und konnten es gar nicht fassen. Ich weiß noch, dass ich auf der Leitung stand und dachte: Wieso bringt sie jetzt ein Baby nach Hause? Wir brauchen doch kein Baby hier. Ich sehe noch heute, wie dieses kleine Bündel an einem sonnigen, noch immer kalten Frühlingstag 1945 in das Hotel gebracht wird, in dem Bündel ein krebsrotes Wesen, das nach Herzenslust brüllt. Das war eine Riesenfreude. Später haben wir Maresa oft gesagt: »Du hast schon als Baby einen solchen Krach geschlagen!«

      Oben im Zimmer war schon ein Stubenwagen hergerichtet, aus Stroh und Holz, mit Rädern und einem Dach. Mit großer Vorfreude waren für das Baby auch weiße Schleier darübergehängt worden. Sie blähten sich im Frühlingswind. Die Kinderschwester mit dem schreienden Baby im Arm betritt das Zimmer, sieht diese Pracht und sagt: »Das ist ganz ungesund, bitte all die Schleier weg, das sind nur Staubfänger.« Da hat sie recht gehabt. Das schreiende Bündel landete im Korb, und wir durften es nicht berühren. Wir durften von weit her hineingucken auf unser jüngstes Schwesterchen.

      Dieses Gefühl kannte ich bereits aus Wien, als ich ungefähr drei Jahre alt war. Christiane, die mittlere Tochter meiner Eltern, stand als Kleinstkind in einer Gehschule oben in unserem Grinzinger Haus im Kinderzimmer. Man hatte mir eingeschärft, ja nicht zu nah an die Schwester heranzugehen. »Du hältst dich bitte weg!«, hieß es streng. Christiane aber spielte besonders gern mit einem Holzspielzeug. Das Schwesterchen schmeißt also ein hellblaues Rundhölzchen heraus aus der Gehschule, es rollt auf mich zu. Was jetzt? Ich darf doch nicht hin. Aus drei Metern Abstand, so nah glaubte ich mich nähern zu dürfen, warf ich das Ding in Richtung Gehschule. Es klirrte – ich hatte die Fensterscheibe getroffen. Als mich die Kinderfrau tadelte, habe ich aufbegehrt: »Nein, ich musste doch weit weg bleiben. Und Christiane wollte doch das Hölzchen wiederhaben.« Meine Logik hat mich vor noch mehr Tadel bewahrt.

      Später haben Christiane und ich uns als Kinder auch furchtbar gestritten, es gab Zeter und Mordio. Einmal habe ich ihr sogar eine kleine Ecke eines Zahns ausgeschlagen – wir hauten uns damals richtig. Meist aber spielten wir in Eintracht, am liebsten »Vater-Mutter-Kind«. Maresa war natürlich das Kind, aber da weit und breit kein gleichaltriges männliches Wesen verfügbar war, musste ich fast immer den Vater spielen. Denn Christiane bestand auf der Mutterrolle. Auch beim Krippenspiel in der Schule fiel mir immer die Rolle des Josef zu. Nie durfte ich die Maria sein, dass fand ich irgendwie ungerecht. Die Jüngste war also unser Kind. Wir nahmen dieses sich schon wehrende Wesen und stopften es in den Puppenwagen – nicht in den Kinderwagen, der war schon weg.

      Mit Puppenspielen hingegen haben wir es eigentlich nie so gehabt. Maresa hat sich dieses Spiel eine Zeit lang gefallen lassen, weil sie mitspielen wollte und durfte. Und ich ließ mir eine Zeit lang gefallen, dass ich immer den Vater spielen musste. Ich fand Christiane damals immer raffinierter, und sie ist es bis heute. Sie war viel besser als ich im Durchschlängeln durch die Unbill, die ein Kind den Erwachsenen gegenüber immer hat, weil sie sehr schnell herausfand, dass man nicht immer mit der Tür ins Haus fallen muss. Wenn ich als die Älteste fragte, warum, dann blieb die Frage immer im Raum. Ich habe stets darauf bestanden, eine Antwort zu erhalten, war frech genug, nachzufragen. Christiane hat mit dieser hartnäckigen Direktheit gar nicht erst angefangen, das war ihr viel zu mühsam und auch zu dumm. Sie musste als Mittlere zwischen dem Benjaminkindlein und der älteren Schwester austarieren und hat das wunderbar geschafft.

      Ein Beispiel aus unserer Teenagerzeit: Mit dem Taschengeld war es immer ein bisschen schwierig. Viel haben wir nicht bekommen, und das unregelmäßig. Aber man brauchte ja auch Geld für Schulutensilien. Häufig kam also der berühmte Satz von Christiane: »Ich brauche wieder einmal neun Schilling für Hefte.« Sie bekam selbstverständlich das Geld, eine ganz schöne Summe für damals. Neun Schilling kostete aber auch ein Platz im Kino in der Sieveringer Straße, wo auch das Geschäft für Schulartikel war. Meine Schwester ging unheimlich gern ins Kino. Sie fuhr mit der Straßenbahn zu diesem Geschäft, um angeblich die Hefte zu kaufen Ein paar Meter daneben war das Kino, und dort landeten diese neun Schilling des Öfteren in der Kasse. Das war schwer verboten, aber meine Eltern blieben, glaube ich, ahnungslos.

      Man könnte auch sagen, die Christiane hat schon für ihre Kino-Karriere geübt. Sie wollte schon immer ein Star werden, eine wie Rita Hayworth oder Bette Davis. Bei einem Spaziergang von uns zwei Schwestern schleppte Christiane einmal einen riesigen Föhrenast aus dem Garten mit. Irgendwann zeigte sie zurück auf diesen Ast, der für sie in diesem Moment eine Kutsche war und sagte kühl: »Da hinten sitzt mein Personal.« Sie sagte: »Pirsonal«.

      Am liebsten spielten wir drei in Wien dann unter dem Mietklavier im Kinderzimmer oben »Flucht«. Das Wort müssen wir aus dem Radio aufgeschnappt haben. Wir mussten erst einmal zusammenpacken – Hausschuhe und Spielzeug kamen in den Polsterüberzug. Dann wurde mit eingezogenen Köpfen gerannt, von unterm Tisch bis unters Klavier, das waren ungefähr zwei Meter. So lang war unsere Flucht.

      Ich habe mich bald darauf zurückgezogen von den Spielen mit den Schwestern, da ging es schon ans Lesen. Dabei wollte ich als Große von den Kleinen keinesfalls gestört werden.

      Zurück nach Sölden: Maresa wurde in der Pfarrkirche getauft. Nach altem Brauch musste man an das Kirchentor klopfen, um Einlass für das Ungetaufte zu erbitten. Ich weiß, dass wir in Eiseskälte vor der Kirche standen. Damals kam auch Doris zu uns nach Sölden, genannt Goschi, die Nichte meiner Mutter. Doris war noch ein Teenager, sie wurde aus dem Arbeitsdienst geholt und zur Tante Paula geschickt, um ihr mit dem Kind zu helfen. Es kam aber noch eine Krankenschwester dazu, Wilma. Die war so wie der Lehrer in Wien ein Nazi durch und durch, so wie auch die Direktorin der Volksschule in Sölden. Unsere Lehrerin hingegen, eine heitere Frau, war diskret gegen das Regime, das ging dort oben sogar. Die Leute im Dorf

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