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Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
Читать онлайн.Название Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962815226
Автор произведения Honore de Balzac
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Aber nach dieser Zeit, während der die Wirtin und ihre Tochter meine Gewohnheiten und meine Sitten auskundschafteten, meine Person prüften und mein Elend verstanden, vielleicht weil sie selber sehr unglücklich waren, knüpften sich zwischen ihnen und mir unvermeidliche Beziehungen an. Pauline, das reizende Geschöpf, dessen zarte, kindliche Grazie mich eigentlich erst dorthin geführt hatte, erwies mir verschiedene Dienste, die ich unmöglich abweisen konnte. Alle traurigen Schicksale sind verwandt; sie sprechen dieselbe Sprache und haben die gleiche Großherzigkeit, die Großherzigkeit jener, die, da sie nichts besitzen, freigebig sind mit ihren Gefühlen und ihre Zeit und ihre Person dareinsetzen. Unmerklich nistete Pauline sich bei mir ein, wollte mich bedienen, und ihre Mutter widersetzte sich dem nicht. Ich sah, wie die Mutter selbst meine Wäsche flickte und errötete, als ich sie bei dieser barmherzigen Beschäftigung ertappte. Da ich, ohne es zu wollen, ihr Schützling geworden war, sträubte ich mich gegen ihre Dienste nicht. Um diese eigentümliche Zuneigung zu verstehen, muß man die Leidenschaft der Arbeit kennen, die Tyrannei der Ideen und jenen natürlichen Widerwillen, den ein Mensch, der in einer geistigen Welt lebt, gegen die Kleinigkeiten des materiellen Lebens empfindet. Konnte ich der zarten Aufmerksamkeit widerstehen, mit der Pauline mir mit leisen Schritten meine bescheidene Mahlzeit brachte, wenn sie bemerkte, daß ich seit sieben oder acht Stunden nichts zu mir genommen hatte? Mit weiblicher Anmut und kindlicher Unbefangenheit lächelte sie mir zu und bekundete durch ein Zeichen, daß ich sie nicht beachten solle. Sie war Ariel,13 der wie eine Sylphe14 unter mein Dach schlüpfte und für mein leibliches Wohl sorgte. Eines Abends erzählte mir Pauline mit rührender Naivität ihre Geschichte. Ihr Vater war Schwadronschef bei den berittenen Grenadieren der kaiserlichen Garde gewesen. Beim Übergang über die Beresina15 war er von den Kosaken gefangengenommen worden; später, als Napoleon ihn austauschen wollte, ließen ihn die russischen Behörden vergeblich in Sibirien suchen; nach den Aussagen anderer Gefangener war er entflohen und plante, sich nach Indien durchzuschlagen. Seither hatte meine Wirtin, Madame Gaudin, keinerlei Nachricht von ihrem Manne erlangen können. Die Unglücksjahre von 1814 und 1815 waren hereingebrochen; allein, ohne Hilfe und Hilfsquellen, hatte sie es unternommen, ein Hotel zu unterhalten, um ihre Tochter zu ernähren. Sie hoffte immer noch, ihren Gatten wiederzusehen. Ihr größter Kummer war, daß sie Pauline keine Erziehung angedeihen lassen konnte, ihrer Pauline, dem Patenkind der Fürstin Borghese,16 das die von ihrer kaiserlichen Beschützerin verheißene glänzende Zukunft nicht Lügen strafen sollte. Als Madame Gaudin mir diesen bitteren Schmerz, der an ihrem Herzen nagte, anvertraute und mit ergreifendem Ton zu mir sagte: ›Gern würde ich den Fetzen Papier, der Gaudin zum Baron des Kaiserreichs macht, und die Ansprüche auf die Schenkung von Wistchnau dafür hingeben, Pauline in Saint-Denis erzogen zu wissen!‹, da erbebte ich plötzlich, und um die Gefälligkeiten, mit denen beide Frauen mich überhäuften, zu vergelten, hatte ich den Einfall, mich zu erbieten, Paulines Erziehung zu vervollständigen. Die beiden Frauen nahmen meinen Vorschlag ebenso treuherzig auf, wie ich ihn gemacht hatte. So kamen denn für mich Stunden der Erholung. Die Kleine hatte die glücklichsten Anlagen; sie lernte so leicht, daß sie mich bald auf dem Klavier übertraf. Sie gewöhnte sich daran, an meiner Seite laut zu denken und entfaltete den ganzen Liebreiz eines Herzens, das sich wie der Kelch einer Blume unter den Strahlen der Sonne dem Leben öffnet; sie heftete ihre schwarzen Samtaugen, die ständig zu lächeln schienen, auf mich und lauschte mir andächtig und freudig, ihre Lektionen repetierte sie mit sanfter Schmeichelstimme und freute sich kindlich, wenn ich mit ihr zufrieden war. Die Mutter, die mit wachsender Unruhe jede Gefahr von dem Mädchen fernhalten wollte, das beim Heranreifen alles erfüllte, was ihre kindliche Anmut verheißen hatte, sah es mit Vergnügen, daß sie sich den ganzen Tag einsperrte, um zu lernen. Da sie selbst kein Klavier besaß, benutzte Pauline meine Abwesenheit, um zu üben. Wenn ich heimkam, fand ich sie in meiner Kammer; sie war immer in sehr bescheidener Kleidung, aber die Bewegung enthüllte ihren geschmeidigen Wuchs und den ganzen Reiz ihrer Person unter dem groben Stoff. Wie die Heldin des Märchens von der Eselshaut hatte sie den zierlichsten Fuß in plumpen Schuhen stecken.
Aber all diese Schätze, dieser Jungmädchenreiz, diese strahlende Schönheit waren für mich gleichsam verloren. Ich hatte es mir auferlegt, in Pauline nur eine Schwester zu erblicken, ich hätte es schändlich gefunden, das Vertrauen der Mutter zu hintergehen. Ich bewunderte das reizende Mädchen wie ein Gemälde, wie das Bildnis einer verstorbenen Geliebten; es war mein Geschöpf, meine Statue. Als ein neuer Pygmalion17 wollte ich aus einer lebendigen, blühenden Jungfrau, die fühlte und sprach, einen Marmor machen. Ich war sehr streng mit ihr; doch je mehr schulmeisterliche Gewalt ich sie fühlen ließ, desto sanfter und unterwürfiger wurde sie. Wenn ich auch in meiner Zurückhaltung und Enthaltsamkeit von edlen Gefühlen bestärkt wurde, so war ich doch nicht frei von berechnenden Erwägungen. Redlichkeit in Geldangelegenheiten ohne Redlichkeit der Gesinnung begreife ich nicht. Eine Frau betrügen oder Bankrott machen, ist für mich immer das gleiche gewesen. Wenn man ein junges Mädchen liebt oder sich von ihm lieben läßt, geht man einen Vertrag ein, dessen Bedingungen einsichtsvoll gehandhabt werden müssen. Es steht uns frei, eine Frau zu verlassen, die sich verkauft, aber nicht ein junges Mädchen, das sich hingibt, denn es kennt die Tragweite seines Opfers nicht. Ich hätte also Pauline heiraten müssen, und das wäre eine Torheit gewesen. Hieße es nicht, eine zarte, jungfräuliche Seele schrecklichem Ungemach preisgeben? Meine Armut redete ihre egoistische Sprache und legte immer ihre eiserne Hand zwischen mich und das gute Geschöpf. Außerdem, ich gestehe es zu meiner Schande, schließt Elend für mich Liebe aus. Vielleicht bin ich verdorben von der menschlichen Krankheit, die wir Zivilisation nennen; aber eine Frau, wäre sie auch so reizvoll wie die schöne Helena oder die Galatea Homers, hat keine Macht mehr über meine Sinne, wenn sie von Straßenschmutz besudelt ist. Ah! es lebe die Liebe, die Liebe in Seide und Kaschmir, umgeben von den Wundern des Luxus, die so herrlich zieren, wohl weil sie selbst vielleicht ein Luxus ist. Ich liebe es, wenn mein heißes Begehren