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Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
Читать онлайн.Название Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962815226
Автор произведения Honore de Balzac
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Wie ich die Dinge, die mich umgaben, betrachtete, entdeckte ich, daß jedes eine Physiologie, einen besonderen Charakter hatte. Oft sprachen sie zu mir; wenn die untergehende Sonne über die Dächer hinweg einen flüchtigen Schein in mein schmales Fenster warf, färbten sie sich, verblaßten, leuchteten auf, wurden bald düster, bald heiter und überraschten mich stets durch neue Wandlungen. Diese winzigen Ereignisse eines einsamen Lebens, die der rastlos geschäftigen Welt entgehen, sind der Trost der Gefangenen. War ich denn nicht gefangen von der Idee, in ein System gesperrt, obgleich die Aussicht auf eine glorreiche Zukunft mich aufrechterhielt? Bei jeder überwundenen Schwierigkeit küßte ich die weichen Hände der reichen, eleganten Frau mit den schönen Augen, die mir eines Tages die Haare streicheln und gerührt zu mir sagen würde: ›Du hast viel gelitten, mein armer Engel!‹ Ich hatte zwei große Werke in Angriff genommen. Eine Komödie sollte mir in wenigen Tagen einen Namen, ein Vermögen und den Eintritt in jene Welt verschaffen, wo ich die Hoheitsrechte des Genies auszuüben gedachte. Ihr alle habt in diesem Meisterwerk den ersten Fehlgriff eines jungen Mannes, der gerade aus dem Collège kommt, gesehen, nichts als eine Kinderei. Eure Spötteleien haben hochfliegenden Illusionen die Flügel gestutzt, und seither ruhen sie. Du, lieber Émile, warst der einzige, der Linderung in die tiefe Wunde träufelte, die die anderen in mein Herz schlugen. Du allein hast meine ›Theorie des Willens‹8 bewundert, jene langwährende Arbeit, um derentwillen ich die orientalischen Sprachen, die Anatomie, die Physiologie studiert und der ich den größten Teil meiner Zeit geopfert habe. Dieses Werk wird, wenn ich mich nicht täusche, die Arbeiten von Mesmer,9 Lavater,10 Gall11 und Bichat ergänzen und der Wissenschaft einen neuen Weg weisen. Hier endet mein schönes Leben, dieses mit jedem Tag erneuerte Opfer, diese der Welt unbekannte Seidenwurmarbeit, deren einziger Lohn vielleicht in der Arbeit selbst liegt. Vom Alter der Vernunft an bis zu dem Tag, da ich meine Theorie beendete, habe ich unablässig beobachtet, gelernt, geschrieben, gelesen; mein Leben war wie ein langes Strafpensum. Obwohl ich verweichlicht war und zu orientalischer Faulheit neigte, obwohl ich in meine Träume verliebt und sinnlicher Natur war, habe ich doch immer gearbeitet und mir die Freuden des Pariser Lebens versagt. Ich schätzte Tafelgenüsse und lebte aufs kärglichste; ich liebte das Wandern und das Reisen zur See, sehnte mich, fremde Länder kennenzulernen, ja, ich hätte noch Vergnügen daran gefunden, gleich einem Kinde, Kieselsteine auf dem Wasser hüpfen zu lassen, und bin doch beständig mit der Feder in der Hand auf einem Fleck sitzengeblieben. Trotz meiner Redseligkeit lauschte ich stillschweigend den Vorlesungen der Professoren in der Bibliothek und im Museum; ich schlief auf meinem einsamen Lager wie ein Benediktinermönch, und doch war eine Frau mein einziger Wunsch, ein ständig gehegtes und nie erfülltes Verlangen. Kurz, mein Leben war ein grausamer Widerspruch, eine fortwährende Lüge. Aber so ist der Mensch! Manchmal brachen meine natürlichen Triebe hervor wie eine Feuersbrunst, die lange im verborgenen geschwelt hat. Wie in hitzigen Fieberträumen sah ich mich, der ich doch all die glühend ersehnten Frauen entbehrte und in äußerster Armut in einer elenden Künstlermansarde hauste, von hinreißenden Frauen umgeben. Ich lehnte