ТОП просматриваемых книг сайта:
Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
Читать онлайн.Название Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962815226
Автор произведения Honore de Balzac
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Dies, mein lieber Émile, sind die Ereignisse, die mein Geschick bestimmten, meine Seele formten und mich so jung noch in die schwierigste Lage brachten«, sagte Raphael nach einer Pause. »Es bestanden zwar familiäre Bande, wenngleich schwache, zu einigen reichen Häusern, doch hätte ich diese schon aus Stolz nicht betreten, wenn nicht Geringschätzung und Gleichgültigkeit mir bereits ihre Türen verschlossen hätten. Obwohl mit sehr einflußreichen Persönlichkeiten verwandt, die ihre Gunst an Fremde verschwendeten, hatte ich weder Verwandte noch Gönner. Da meine Seele, sobald sie sich aufschließen wollte, immerfort zurückgestoßen wurde, hatte sie sich ganz in sich selbst zurückgezogen. So freimütig und offenherzig ich auch war, mußte ich doch kalt und verschlossen erscheinen; die Tyrannei meines Vaters hatte mir jedes Selbstvertrauen geraubt. Ich war schüchtern, linkisch; ich glaubte nicht, daß meine Stimme das geringste Gehör finden könnte. Ich mißfiel mir, ich fand mich häßlich, ich schämte mich meines Blicks. Trotz der inneren Stimme, die begabte Menschen in ihren Kämpfen aufrechterhält und die mir zurief: ›Mut! Vorwärts!‹; trotzdem sich meine Kraft mir in der Einsamkeit plötzlich offenbarte; trotz der Hoffnung, die mich belebte, wenn ich die vom Publikum bewunderten neuen Werke mit denen verglich, die mir in meiner Phantasie vorschwebten, zweifelte ich an mir wie ein Kind. Ich war von einem übersteigerten Ehrgeiz besessen, ich glaubte mich zu großen Dingen berufen und war zur Nichtigkeit verdammt. Ich brauchte Menschen und besaß keine Freunde. Ich sollte mir einen Weg in die Welt bahnen und blieb allein, weniger aus Furcht als aus Scham. In dem Jahr, in dem mein Vater mich dem Strudel der großen Gesellschaft ausgesetzt hatte, gab ich mich ihr mit unschuldigem Herzen, mit unverdorbener Seele hin. Wie alle großen Kinder sehnte ich mich heimlich nach der Liebe. Unter den jungen Leuten meines Alters traf ich eine Clique von Großmäulern, die erhobenen Hauptes einherstolzierten, Nichtigkeiten schwätzten, sich keck zu Frauen setzten, die mir höchste Achtung einflößten, freche Reden führten, am Knauf ihres Spazierstocks kauten, sich eitel zierten und schöntaten, sich den hübschesten Frauen antrugen, in allen Schlafzimmern ein und aus gingen, es zumindest behaupteten, eine Miene zogen, als ob ihnen nichts mehr Vergnügen machte, die tugendhaftesten und züchtigsten Frauen für leichte Beute hielten, die man mit einem albernen Wort, der kleinsten gewagten Geste oder dem ersten dreisten Blick erobern könne! Ich schwöre es dir auf Ehre und Gewissen: es schien mir weniger schwer, politische Macht oder großes literarisches Ansehen zu erringen als den Erfolg bei einer geistreichen und anmutigen jungen Dame aus obersten Kreisen. So standen also die Wirren meines Herzens, meine Empfindungen, mein Bedürfnis, anzubeten, im Widerspruch zu den Grundregeln der Gesellschaft. Kühn war nur meine Seele, nicht mein Auftreten. Später habe ich gemerkt, daß Frauen nicht gebettelt werden wollen; ich sah viele, die ich von ferne anbetete, denen ich ein Herz entgegenbrachte, zu jeder Probe bereit, eine Seele zum Zerreißen und eine Glut, die vor keinen Opfern und keinen Martern zurückgeschreckt wäre; sie aber gehörten jämmerlichen Tröpfen an, die ich nicht einmal als Portiers gewollt hätte. Wie oft habe ich nicht stumm und regungslos die Frau meiner Träume bewundert, wenn sie auf einem Ball vor mir auftauchte; und während ich dann in Gedanken mein ganzes Dasein nicht endenwollender Zärtlichkeiten für sie weihte, legte ich all meine Hoffnungen in einen Blick und bot ihr in meiner Hingerissenheit die Liebe eines Jünglings dar, die über Täuschungen erhaben ist. In manchen Augenblicken hätte ich mein Leben für eine einzige Nacht hingegeben. Aber nie fand ich Ohren, in die ich meine leidenschaftlichen Worte stammeln, nie ein Auge, in das mein Blick sich senken konnte, nie ein Herz für mein Herz, und so durchlebte ich alle Qualen einer ohnmächtigen Glut, die sich selbst verzehrte; sei es aus Mangel an Kühnheit oder an Gelegenheiten, oder sei es aus Unerfahrenheit. Vielleicht verzweifelte ich daran, daß ich mich nicht verständlich machen könnte, oder ich fürchtete, zu gut verstanden zu werden. Und dabei drohte jeder freundliche Blick, den man mir gönnte, einen Sturm in mir zu entfesseln. Doch trotz meiner Bereitschaft, einen solchen Blick oder scheinbar herzliche Worte als zarte Aufforderung zu deuten, wagte ich nie, zur rechten Zeit zu sprechen oder zu schweigen. Allzu starkes Gefühl ließ meine Worte nichtssagend werden und mein Schweigen albern. Fraglos war ich zu naiv für eine derart überfeinerte Gesellschaft, die in Glanz und Herrlichkeit lebt und alle ihre Gedanken in konventionelle Phrasen oder Modewörter kleidet. Ich verstand weder beredt zu schweigen, noch redend zu verschweigen. Kurz, ich trug ein Feuer in mir, das mich verbrannte; ich hatte ein Herz, wie es die Frauen zu finden wünschen, war so glühend und hingebungsvoll, wie sie es ersehnen; ich besaß die Energie, deren die Tröpfe sich nur rühmen – und doch haben mich alle Frauen aufs grausamste verraten. Kein Wunder, daß ich die Helden jener Clique ganz naiv bewunderte, wenn sie mit ihren Triumphen prahlten, und keineswegs argwöhnte, daß sie lügen könnten. Es war ohne Zweifel töricht von mir, auf bloße Worte hin Liebe zu begehren, im Herzen einer frivolen und leichtsinnigen, auf Luxus erpichten, von Eitelkeit trunkenen Frau, die gewaltige Leidenschaft zu erhoffen, den stürmischen Ozean, der in meinem eigenen Herzen brandete. Oh, sich geboren fühlen, um zu lieben, um eine Frau glücklich zu machen, und keine finden, nicht einmal eine mutige und edle Marceline5 oder irgendeine alte Marquise! Wenn man Schätze in einem Bettelsack trägt und kein Kind, kein neugieriges Mädchen findet, das sie bewundern will! Ich habe mich oft aus Verzweiflung umbringen wollen.«
»Du bist ja hübsch tragisch heute abend!« rief Émile.
»Laß mich, laß mich mein Leben verdammen«, erwiderte Raphael. »Wenn deine Freundschaft