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ihre Angestellten etwas von den Bedrohungen erfuhren. Sie riss den Umschlag auf. ›Tote Fische schwimmen mit dem Strohm‹, stand da. Wieder ausgeschnittene, auf den Bogen geklebte Buchstaben. Ein völlig sinnloser Satz. Es ging offensichtlich nur um die ersten beiden Wörter. Der Rechtschreibfehler mochte etwas zu bedeuten haben oder auch nicht. Am meisten erschütterte Valerie, dass der Unbekannte sie auch in ihrem Geschäft verfolgte. Sie schob den Papierbogen in den Umschlag zurück. Mittags würde sie ihn Zita Elmer bringen. Für den Moment wollte sie sich zwingen, nicht mehr daran zu denken, sondern sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

      Valerie rief Luís zu sich. Seppli schlief im Büro neben dem Ofen, vermutlich träumte er, denn seine Beine bewegten sich und er gab kleine, aufgeregte Laute von sich. Vielleicht jagte er im Traum über eine grüne Wiese und erlebte große Abenteuer. Luís warf ein Blick hinüber und kicherte, dann konzentrierte er sich wieder auf das Velo vor ihm. Valerie hatte einen Stapel hellgelber Post-it-Zettelchen in der Hand, jedes mit einem Wort beschriftet. ›Speiche‹, ›Bremskabel‹, ›Rücklicht‹ und Ähnliches stand darauf. Sie gab Luís eines nach dem anderen; er las die Aufschrift laut vor und klebte das Zettelchen an die richtige Stelle des Rads. ›Gangschaltung‹. Ein schwieriges Wort. Lang. Kaum auszusprechen. Und was bezeichnete es schon wieder?

      »Schau dir zunächst nur den ersten Teil des Wortes an«, gab ihm Valerie einen Tipp.

      Gang, klar, ging Luís auf.

      »Und was machst du, wenn du nicht mehr im fünften, sondern im sechsten Gang fahren willst?«

      Richtig, schalten. Und das Ding, mit dem man das bewerkstelligte, war eben – die Gangschaltung.

      Sie ging mit ihrem Anlehrling nach oben, griff sich ein Rad, an dem die Gangschaltung repariert werden musste, und begann, Luís am Objekt zu erklären, wo das Problem lag und wie es anzugehen war.

      Die Ladenglocke ertönte und aus dem Augenwinkel sah Valerie, dass Hugo Tschudi seine alte Mühle in den Laden schob. Wehe, wenn heute Abend wieder etwas fehlt, drohte sie in Gedanken gereizt.

      Markus kümmerte sich sogleich um ihn; zusammen beugten sie sich über das Fahrrad. Der Mechaniker holte einen Schraubenzieher, es war offenbar nur eine lockere Schraube anzuziehen. Valerie nervte es besonders, dass Hugo mit Problemen ankam, die er selbst hätte beheben können. Wenn er auf dem Fahrrad durch Lateinamerika gefahren war, wie er regelmäßig erzählte, musste er wohl imstande sein, eine Schraube an seinem Velo festzudrehen.

      »Also, bis Samstag«, hörte sie Hugo zu Markus sagen. So, dachte sie, gleich wieder verärgert, die treffen sich also in der Freizeit. Es ging sie ja nichts an, aber ihr Unmut blieb. Sie hatte in der letzten Zeit eine Abneigung gegen Hugo entwickelt, was vermutlich ungerecht war, wie sie sich eingestehen musste. Auf den ersten Blick wirkte er ein wenig eigen, ein bisschen schrullig, vielleicht etwas lästig, jedoch harmlos. Aber mit der Zeit hatte Valerie ab und zu Blicke von ihm aufgefangen, die ihr nicht gefallen hatten. Kühl, hochmütig, spöttisch. Sie konnten einen unbeholfenen Kunden treffen oder Luís, wenn er Schweizerdeutsch sprechende Kundschaft nicht verstand, oder auch sie selbst, vor allem, wenn sie von irgendetwas genervt war, zum Beispiel von einem komplizierten Kunden, und es sich nicht anmerken lassen wollte. Hugo schien es zu merken – und zu genießen. Es begann sie zu stören, dass er regelmäßig im FahrGut herumlungerte, und sie überließ es meist Markus, sich mit ihm herumzuschlagen. Möglicherweise war das keine gute Idee gewesen. Hugo zu ›ermorden‹ hatte natürlich nichts genützt, der kam sowieso, ob er nun den halbjährlichen Versand bekam oder nicht. Die teuren Neuheiten, die in den Prospekten vorgestellt wurden, konnte er sich ohnehin nicht leisten. Aber immerhin erhielt er keinen Gutschein mehr, mit dem er zehn Prozent auf einen Winterservice erhalten hätte. Das hätte gerade noch gefehlt. Ob er vielleicht – nein, das traute Valerie ihm denn doch nicht zu, dass er auf solche Gemeinheiten kam.

      Sie sah auf. Tschudi war ja immer noch da. Er stand neben ihr, schaute auf sie herunter.

      »Und wie gehts der Frau Chefin?«, erkundigte er sich mit gespielter Ehrerbietung. »Viel Ärger im Geschäft wie meistens?«

      Valerie nahm sich zusammen. »Danke«, antwortete sie kurz, »mir gehts bestens.« Nur nicht provozieren lassen, ermahnte sie sich. Und fügte doch etwas bissig hinzu: »Wir haben günstige Schraubenzieher im Sortiment. Natürlich nur, falls Sie den Ehrgeiz haben sollten, zu lernen, selbst eine lockere Schraube anzuziehen.«

      »Wollen Sie damit sagen, bei mir sei eine Schraube locker?«, fragte Tschudi heiter zurück. »Dann wäre ich bei Ihnen ja an der richtigen Adresse.«

      Valerie hatte nicht die geringste Lust auf ein Wortgeplänkel. »Ich bin dabei zu arbeiten«, würgte sie das Gespräch ab. »Und normalerweise kosten Reparaturen bei uns etwas.«

      »Ja«, gab er verächtlich zurück. »Der heilige Kommerzius ist auch der Schutzpatron dieses Ladens. Da kann man so alternativ tun, wie man will, letztlich ist man doch die Chefin, die scheffelt. Ciao.«

      Tschudi ging. Markus warf ihr einen Blick zu. Scheffeln, dachte Valerie, wider Willen amüsiert. Was der sich wohl vorstellt? Sie konnte gut leben vom Geschäft, in den letzten Jahren war es stetig bergauf gegangen. Aber das richtige Business, um reich zu werden, war die Fahrradbranche mit Sicherheit nicht. Für Tschudi, diesen Moralisten, war man wohl schon eine Kapitalistin erster Güte, wenn man es auf mehr als das Existenzminimum brachte. Na ja, es lohnte sich nicht, viele Gedanken an Hugo Tschudi zu verschwenden.

      Valerie ließ Luís einen platten Reifen flicken und ging ins Büro hinunter. Der Hund hob seinen verstrubbelten Kopf und gähnte. »Faultier«, murmelte sie und tätschelte ihn. Aber er sprang, erfrischt vom Morgenschläfchen, auf, alles andere als ein Faultier, und schaute sie erwartungsvoll an. Valerie sah auf die Uhr. »In einer halben Stunde ist Mittagspause, dann gehen wir zusammen raus, okay?«

      2. Teil

      Als Erstes brachte sie mittags den anonymen Wisch zum Polizeiposten. Elmer studierte die Botschaft. »Scheint keinen Sinn zu ergeben. Da ist nur die Verbindung mit dem toten Fisch. Es sei denn, der Täter ist der Meinung, dass Sie gegen den Strom schwimmen. Könnte sich auf Ihren Beruf beziehen. Aber das hilft uns nicht weiter. Vielleicht ist es schlicht ein Psychopath, der Ihnen einen toten Fisch schickte, weil der leichter aufzutreiben ist als ein Kalbskopf. – Entschuldigung«. Valerie war zusammengezuckt. »Ich werde auch dieses Papier auf Spuren untersuchen lassen. Einstweilen bitte ich Sie, die Sache nicht zu sehr auf die leichte Schulter zu nehmen. Passen Sie auf sich auf.«

      Na, vielen Dank, dachte Valerie etwas unzufrieden, als sie davonzog. Sie drehte mit dem Hund eine Runde im Quartier. Seppli schnupperte hingebungsvoll an einem undefinierbaren Fleck auf dem Asphalt. Valerie ließ ihn gewähren. Sie hatte es nicht eilig, sie wollte auch nicht nachdenken, sondern für eine halbe Stunde so tun, als wäre es ein ganz normaler Tag, ein Spaziergang wie jeder andere. In diesem Viertel gab es zum Teil verkehrsberuhigte Straßen mit älteren Mietshäusern, Genossenschaftsgebäuden mit günstigen Wohnungen für Familien mit kleineren Einkommen, für alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern, Wohngemeinschaften, ältere Leute mit kleiner Rente. Es war ein eher ruhiges Viertel, zwar mit gemischter Bevölkerung, aber ohne angesagte Bars und Szenetreffpunkte. Die verschiedenen Gemeinschaften pflegten wenig Kontakt. Die orthodoxen Juden blieben für sich, die muslimischen Familien aus den Balkanländern und der Türkei ebenfalls und die Schweizer guckten wohl den Frauen mit Kopftüchern und langen Regenmänteln oder den Männern mit den Zapfenlocken ein bisschen skeptisch nach, kümmerten sich aber um ihre eigenen Angelegenheiten.

      Gut drei Jahre war Seppli nun bei Valerie. In ihrem Bekanntenkreis waren eher Katzen die angesagten Haustiere. Hunde, behaupteten ihre Freunde, seien eher etwas für einsame alte Leute, vielleicht für Familien, bei denen es neben zwei unordentlichen Kindern auf einen Hund nicht mehr ankam, oder für die Hundesportler, die ihre belgischen Schäfer militärisch dressierten. Zu guter Letzt gab es noch die Zuhältertypen und verantwortungslosen jungen Loser, die ihr Image mit einem Kampfhund aufpeppten, den sie nicht im Griff hatten. Aber Valerie mochte Katzen nicht. So sehr auch ihre Bekannten das Loblied auf die Unabhängigkeit und Eigenwilligkeit ihrer Katzen sangen und dies geringschätzig der Unterwürfigkeit und Unselbstständigkeit von Hunden gegenüberstellten, sie

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