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sich ihren Hund aus einem Tierheim geholt. Was für eine Mischung er war, wurde nicht klar, auch seine Geschichte blieb im Dunkeln. Jedenfalls war er eine Zeit lang obdachlos gewesen und sehr geschickt im Organisieren von Futter. Leider, dachte Valerie seufzend, hatte er diese Eigenschaft bis jetzt nicht abgelegt, obwohl zuverlässig jeden Morgen ein gefüllter Fressnapf vor ihn hingestellt wurde. Die ersten Wochen mit ihm waren nicht einfach gewesen. Er war zwar stubenrein, gutartig und bellte nicht oft, hatte aber ein unerschöpfliches Kontakt- und Kommunikationsbedürfnis. Valerie lebte zu diesem Zeitpunkt seit einem Jahr allein, und zwar gerne. Und sie merkte mit einem leichten Erschrecken, dass sie jetzt nie mehr wirklich allein sein würde. Egal, was sie tat, stets waren zwei große Augen auf sie gerichtet. Wenn sie ins Bad ging, setzte sich der Hund dicht vor die Tür und wimmerte. Wenn sie nach drei Minuten wieder herauskam, war seine Freude einfach zu groß für den banalen Anlass. Nach ein paar Tagen ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass sie gerne wieder einmal einen Abend für sich hätte. Aber mit der Zeit hatte man sich aneinander gewöhnt. Seppli gehörte zum Laden und auf beiläufig angenehme Art zu ihrem Leben.

      Sie zog den Hund energisch weg von dem interessanten Fleck auf der Straße und bog mit ihm um die Ecke. Es war die Straße, in der ihr Konkurrent Paul Schiesser seinen Laden hatte. Schiesser konnte sie nicht leiden. Valeries Vater und er hatten jahrzehntelang in einer distanzierten Koexistenz gelebt, keiner grub dem anderen groß das Wasser ab. Valerie hatte ihn als Kind gekannt und er war damals nett zu ihr gewesen. Aber der frische Wind, den die erwachsene Valerie ins Business brachte, schreckte Schiesser auf. Als das größere Ladenlokal an der Schmiede Wiedikon ausgeschrieben gewesen war, hatten sich beide beworben. Valerie hatte den Zuschlag erhalten. Sie konnte es Schiesser also nicht verdenken, dass er nicht gut auf sie zu sprechen war. Sie wusste, dass er bei Lieferanten und Konkurrenten über sie lästerte. Er hatte die Entwicklung im Velobusiness einfach verschlafen, während Valerie genau im richtigen Moment ins Geschäft eingestiegen war und ihre Chancen genutzt hatte. Man grüßte sich knapp, wenn man sich zufällig traf.

      Valerie wechselte die Straßenseite, sie musste ja nicht gerade an seinem – übrigens schlecht dekorierten – Schaufenster vorbeistolzieren. Der Mann hatte keine Ahnung von Gestaltung. Er hatte offenbar sein halbes Lager im Schaufenster aufgetürmt, damit die Kunden sahen, was bei ihm alles im Angebot war. Mit dem Resultat, dass man gar nichts wahrnahm, nicht mal Lust hatte, einen zweiten Blick zu riskieren.

      Aber nun sah Valerie doch genauer hin. Denn die Ladentür wurde aufgerissen und sie hörte Schiesser laut und wütend, mit sich fast überschlagender Stimme brüllen: »Hauen Sie bloß ab und lassen Sie sich hier nie wieder blicken!«

      Aus seinem Geschäft stürzte Hugo Tschudi. Was, hier verkehrt der auch?, wunderte sie sich. Dann sah sie Hugos Gesicht. Sein überlegenes, verschlagenes Lächeln. Sie ging rasch weiter. Womit hatte Tschudi Schiesser wohl so in Rage gebracht? Jedenfalls, daran zweifelte Valerie nicht, hatte er es genossen. Nein, dachte sie, Hugo Tschudi war nicht nur ein eigenbrötlerischer Mensch, er war ein sehr unsympathischer Mensch, der in ihr Unbehagen auslöste. War er darüber hinaus ein Dieb? Sie wünschte, er würde FahrGut und ebenso ihren Mechaniker in Ruhe lassen. Ihn einfach ein für alle Mal rauswerfen konnte sie nicht, dafür hatte sie keinen handfesten Grund und dafür war auch der Streit mit Angela Legler noch nicht lange genug her. Die Sache lag ihr ein wenig im Magen. Man hatte ja schließlich einen Ruf zu verlieren.

      Valerie ging weiter. Eine Frau fuhr auf einem Rad an ihr vorbei. Angekoppelt war ein kleiner, mit durchsichtiger Folie bedeckter Anhänger, in dem ein kleines Kind saß. Der wurde bei mir gekauft, registrierte Valerie beiläufig. Aber sie hat dem Kind den Helm ja ganz falsch aufgesetzt. Sie erinnerte sich an eine SUVA-Werbung für Velohelme. Eine ganze Familie, alle mit Helmen ausgestattet – und jeder einzelne saß falsch. Hatte keinen Wert, sich darüber aufzuregen.

      3. Teil

      Die Ladenglocke ertönte, herein kam Frau Zweifel. Frau Zweifel fuhr nicht Velo. Sie war 80 Jahre alt. Sie wohnte im selben Haus, einen Stock über FahrGut. Valerie freute sich, sie zu sehen. Vor über 30 Jahren war sie bei ihr zur Schule gegangen. Frau Zweifel war im Quartier, im Ämtlerschulhaus, Primarlehrerin gewesen. Längst war sie pensioniert. Auch wenn sich das Quartier in den letzten Jahrzehnten stark verändert hatte, Leute weggezogen waren, andere sich hier niedergelassen hatten, kannte Salome Zweifel bis heute viele der Viertelbewohner. Einige hatten bei ihr lesen und schreiben gelernt. Nicht nur Valerie, auch ihr ungeliebter Kunde Hugo Tschudi, Angela Leglers Mann und sogar Paul Schiesser waren ihre Schüler gewesen. Sie wohnte in der eigenen Wohnung und dachte nicht daran, ins Altersheim zu ziehen. Zweimal pro Woche lieferte Pro Senectute Mahlzeiten, die Frau Zweifel nur aufzuwärmen brauchte; eine Putzfrau hielt die Wohnung sauber und bügelte, und wenn sie krank war, bestellte sie jemanden von der Spitex. Zudem hatte ihr Hausarzt, Doktor Hefti, seine Praxis im selben Haus. So kam sie sehr gut zurecht, obwohl ihr diese und jene Altersgebrechen zu schaffen machten. Aber im Kopf war sie völlig klar. Und dann gab es noch Raffaela, ihre Großnichte. Salome Zweifel war nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Aber Raffaela, die Enkelin ihres Bruders, schaute regelmäßig bei ihr vorbei.

      »Guten Morgen«, grüßte sie, »haben Sie gerade viel zu tun?« Obwohl sie Valerie als Siebenjährige gekannt hatte, nahm sie es sich nicht heraus, sie zeitlebens zu duzen, und Valerie war ihr dankbar dafür.

      »Nein«, erwiderte Valerie, »heute läuft nicht viel.« Sie hatte ein Rad in den Bock eingespannt, dessen Lenker sie auswechseln musste. Es war ein Citybike, das statt eines sportlichen Mountainbike-Lenkers einen bequemen Hollandlenker bekommen sollte. Sie rückte für Frau Zweifel einen Stuhl zurecht. »Ich freue mich, wenn Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten.«

      Markus und Luís waren im hinteren Teil der Werkstatt zugange. Frau Zweifel grüßte unsicher nach hinten. Luís lächelte, Markus reagierte nicht. Typisch, dachte Valerie genervt, dieser Stockfisch.

      Valerie hatte eben eines der Bremskabel des Vorderrads mit einem Inbusschlüssel gelöst, nun griff sie nach einem Gabelschlüssel und machte sich am Schaltkabel des Hinterrads zu schaffen. »Wie läufts denn in Ihrem Kurs?«

      »Gut«, gab Frau Zweifel Auskunft. »Das ist gar nicht so schwierig mit diesem Internet, wie ich gedacht hatte. Das war eine gute Idee von Raffaela.«

      Valerie lachte. Sie kannte Frau Zweifels Großnichte nur flüchtig, denn Raffaela Zweifel war keine Radfahrerin. Sie war eine gut aussehende junge Frau Mitte 20. Typ Partygirl. Fröhlich, lebenslustig – und bewundernswert souverän auf ihren High Heels. Raffaela Zweifel, die in der Nähe als Sekretärin arbeitete, war weit davon entfernt, sich um ihre Großtante zu kümmern, indem sie sich mit ihr zum Kuchenessen traf. Das hätte sie zweifellos gelangweilt. Sie hatte sie dazu angestiftet, sich einen Laptop zu kaufen, und sie eifrig in dessen Benutzung eingeführt. ›Schreib deine Erinnerungen auf‹, hatte sie vorgeschlagen, ›Geschichten, wie es früher war.‹ Kurze Zeit später hatte sie ihr einen Internetanschluss eingerichtet und sie zu einem Internetkurs für Senioren angemeldet. Als Geschenk zum 80. Geburtstag. Das hatte die alte Frau zuerst etwas überrumpelt, aber dann hatte sie Gefallen daran gefunden.

      Alle Achtung, dachte Valerie, während sie sich daranmachte, die Lenkergriffe zu entfernen. Sie fuhr mit einem dünnen Schraubenzieher unter den Gummi und sprühte etwas Kriechöl in den Spalt. Nun ließen sich die Griffe herunterschieben. Valerie wischte das Öl sorgfältig vom Lenker.

      Sie hatte sich schon oft mit der alten Frau unterhalten und wusste, dass sie es faustdick hinter den Ohren hatte. In ihrer Jugend hätte sie gern Mathematik studiert, aber das Höchste, was ihr Vater ihr damals zugestanden hatte, war eine Ausbildung zur Primarlehrerin gewesen. Da hatte sie wenigstens mit Kindern zu tun. Was sie da lernte, konnte sie später bei den eigenen Kindern anwenden. Eigene Kinder hatte sie dann aber nicht. Aber sie unterrichtete gern. Kinder waren so lernfähig, sie lernten von Geburt an, egal ob sie versunken spielten, herumtobten, sich stritten, Fragen stellten oder etwas beobachteten. Sie lernten, weil sie wissen wollten, wie die Welt funktionierte, in der sie lebten. Man musste also so unterrichten, hatte die junge Lehrerin Salome Zweifel gefolgert, dass die Kinder das, was sie ihnen beibrachte, tatsächlich wissen wollten. Und sie hatte Erfolg. Wenn sie ihre Klassen nach drei Jahren an den Viert- bis Sechstklasslehrer abgab, waren sie mit dem Schulstoff

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