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Schrottreif. Isabell Morf
Читать онлайн.Название Schrottreif
Год выпуска 0
isbn 9783839234105
Автор произведения Isabell Morf
Жанр Триллеры
Издательство Автор
Neben dem Unterricht pflegte sie weiterhin ihre geheime Leidenschaft, die Mathematik. Sie verfolgte ihre Entwicklung aus der Distanz, las Artikel darüber auf der Seite Forschung und Technik der Neuen Zürcher Zeitung, verschlang Biografien von Mathematikern, verfolgte die Entstehung der Informatik. Besonders beeindruckte sie Heinz Rutishauser, Informatiker an der ETH, ein Pionier der Computerwissenschaften. Er war im gleichen Dorf aufgewachsen wie sie, war aber einige Jahre älter. Trotz dieser Interessen hatte Salome Zweifel eine Scheu vor den elektronischen Medien. Irgendwie schienen sie einer anderen Zeit anzugehören, in der sie, Salome, zwar lebte, aber mit der sie nicht so eng verbunden war wie mit früheren Zeiten. Die Pensionierung war ein tiefer Einschnitt in ihrem Leben gewesen. Eigentlich hätte sie sich jetzt an der Universität immatrikulieren und Mathematik studieren können. Aber sie traute es sich nicht mehr zu. Ich werde alt, hatte sie gedacht, nein, ich bin alt, die Dinge überholen mich. Es hatte die junge, unbekümmerte Raffaela gebraucht, um sie aus dieser Unsicherheit und Resignation herauszuholen. ›Unsinn, Salome‹, hatte sie resolut erklärt, ›das muss man heutzutage können. Du auch. Und das schaffst du mit links.‹ Und die alte Frau stellte fest, dass sie zwar langsamer lernte, aber nicht so eingerostet war, wie sie gedacht hatte.
»Raffaela fürchtet, ich könnte mich langweilen, allein in der Wohnung«, erzählte sie nun Valerie. »Sie hat mir von diesen Chatrooms erzählt, in denen man Leute von überall her kennenlernen kann. Zum Beispiel pensionierte Lehrerinnen aus Australien. Oder Leute, die Anagramme basteln. Oder ich könnte im Internet kanadische Zeitungen lesen. Das hat mich natürlich schon interessiert, auch wenn es bald 50 Jahre her ist, seit ich in Kanada gelebt habe. Immerhin war ich zwei Jahre dort.«
»Waren Sie schon auf der Website von FahrGut?«, wollte Valerie wissen. Sie hängte die Brems- und Schaltkabel, die mit kleinen Köpfchen gesichert waren, aus der Bremse und der Gangschaltung aus. Dann hob sie den Lenker aus dessen Vorbau heraus.
»Ach, so weit bin ich bisher nicht. Wir haben im Kurs erst das mit diesen E-Mails gehabt. Das ist alles ein wenig verwirrend. Das Internet ist ja offenbar riesig. Wie finde ich denn Ihre Seite?«
Valerie erklärte es ihr.
»Ich habe jetzt immerhin eine E-Mail-Adresse«, erzählte Frau Zweifel, »und Raffaela schreibt mir täglich eine kurze Nachricht aus dem Büro. Sie ist wirklich ein liebes Mädchen. Auch wenn sie sich etwas verrückt anzieht. Sie hat diese Stelle nun schon länger als ein Jahr und ihr Chef ist offenbar sehr zufrieden mit ihr. – Ihre E-Mails beantworte ich natürlich. Das ist Ehrensache. Wenn ich täglich nachsehe, vergesse ich zudem mein Passwort nicht. Im Kurs haben sie uns gesagt, wir sollten es auswendig können und nicht notieren. Aber mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«
»Sie müssten eins wählen, das Sie sich gut merken können.« Valerie hatte den Mountainbike-Lenkervorbau, dessen Krümmung nach unten zeigte, aus dem Rahmen entfernt und setzte den neuen Vorbau, dessen Krümmung nach oben verlief, ein. Darauf kam der neue Lenker. Sie erzählte Frau Zweifel die Geschichte aus Umberto Ecos Roman ›Das Foucaultsche Pendel‹. Wie Casaubon am Computer des verschwundenen Jacopo Belbo sitzt und versucht, an dessen Dateien heranzukommen, obwohl er das Passwort nicht kennt. ›Hast du das Passwort?‹, fragt ihn der Computer höflich. Nach stundenlangen vergeblichen Versuchen ist Casaubon mit den Nerven völlig am Ende und er tippt wütend ›Nein‹ ein. Und siehe da, dieses Wort war das Passwort. Frau Zweifel lachte.
»Ja, so etwas Narrensicheres müsste ich auch haben. Eine Frage, die die Antwort enthält. Eine Eingabeaufforderung, die das Passwort beinhaltet. Ein passendes Wort.« Sie kicherte. Sie hatte Freude an Wortspielen, gleichermaßen gefielen ihr Valeries Werbeslogans, in denen sie mit ihrem Namen spielte. Früher hatte sie mit den Namen ihrer Bekannten und ihrer Schülerinnen und Schüler Anagramme ausgetüftelt.
Ihr würde schon was einfallen, dachte Valerie. Sie holte die neuen Brems- und Schaltkabel, die etwas länger waren als die alten.
Es war kurz nach 16 Uhr. Adele kam, wie oft auf dem Nachhauseweg von der Schule, auf einen Sprung vorbei. Valerie hätte sie gerne auf ihre Bemerkung vom Vortag angesprochen, aber dazu hätte sie mit ihr allein sein wollen. Frau Zweifel war gerade dabei, ihr zu erklären, dass sie sich Fotos, die sie mit ihrer Handykamera aufnahm, per MMS auf den Laptop schickte. Adele blickte sehnsüchtig auf das Handy. Ihre Eltern wollten nicht, dass sie eins hatte. Frau Zweifel hingegen besaß eines, weil ihre Nichte es ihr praktisch aufgedrängt hatte. ›Du musst eins haben‹, hatte sie bestimmt erklärt. ›Wenn du irgendwo hinfällst, mit deinen Schwindelanfällen, musst du dir Hilfe organisieren können.‹ Sie hatte ihr natürlich nicht das billigste gekauft, sondern eines, und das machte das Teil so spannend für Adele, mit dem man Fotos machen und sogar kurze Filme drehen konnte. Das hätte das Mädchen so gern ausprobiert. Sie wünschte sich eines zu ihrem Geburtstag, aber ihre Eltern machten ihr keine Hoffnungen.
»Warum schieben Sie die Fotos nicht per Kabel auf Ihren Laptop rüber?«, schlug Valerie vor. »Wäre doch einfacher und billiger als per MMS.« Von einer Rolle zwackte sie vier abgemessene Stücke Kabelhülle ab, schob nacheinander die zwei Bremskabel und die zwei Schaltkabel hinein und zog sie hindurch. Sie hängte oben die Kabelköpfchen ein und legte die Kabel entlang des Lenkervorbaus und des Rahmens nach unten.
»Ach, das funktioniert irgendwie nicht, Raffaela hat es versucht.« Frau Zweifel zuckte die Achseln. »Aber es geht auch so. Übrigens werde ich auf meine alten Tage noch Fotoreporterin.«
Fotoreporterin? Adele hörte gespannt zu.
»Schauen Sie, das haben sie im Kurs verteilt.« Sie kramte eine Broschüre aus ihrer Handtasche hervor und reichte sie Valerie. Ein Wettbewerb für Senioren. Vom Sozialamt organisiert. Seniorinnen und Senioren sehen ihr Quartier. »Kleine Reportagen mit Texten und Fotos des Quartiers, in dem man wohnt. Was meinen Sie, soll ich da mitmachen?«
»Klar!«, rief Valerie. »Sie leben doch schon so lange hier. Kennen das Quartier, die Leute, haben Erinnerungen, haben die Veränderungen miterlebt.« Sie befestigte die Kabel an den Bremsen und der Gangschaltung. Mit einem Inbusschlüssel drehte sie die feinen Schräubchen fest.
»Dürfte ich in Ihrem Geschäft Fotos machen?«
Valerie machte eine einladende Geste. »Jederzeit.« Sie löste das Fahrrad aus der Halterung, stellte es auf den Boden, ersetzte den schwarz übermalten Sticker durch einen neuen und schob es in den hinteren Werkstattbereich. Nun würde sie noch die Gangschaltung überprüfen und wahrscheinlich neu einstellen müssen.
Adele wusste, dass sie langsam nach Hause gehen sollte. Aber sie konnte sich kaum losreißen. Sie wusste plötzlich, was sie werden wollte: Fotoreporterin. Am liebsten gleich. Aber dafür bräuchte sie einen Laptop. Ein Handy. Einen Fotoapparat. Es war hoffnungslos, wenn man zehn Jahre alt war. Sie streichelte Seppli und machte sich auf den Heimweg.
Auch Frau Zweifel verabschiedete sich. Valerie blieb zurück, etwas getröstet, und nahm sich die nächste Reparatur vor. In der letzten Stunde hatte sie die üble Geschichte ganz vergessen. So sollte es sein, dachte sie, nette Kunden, Nachbarinnen, die zum Plaudern kommen, Arbeit, auch mal nervige Kunden, das gehört dazu. Normal sollte es sein, einfach alltäglich. Was war denn bloß in der letzten Zeit los? Angefangen hatte es mit den übermalten Stickern, dann die Diebstähle, jetzt Drohungen, Belästigungen – was sollte das Ganze? Standen diese Dinge in einem Zusammenhang? Würde es sich noch weiter steigern? Plötzlich stieg eine leise Furcht in ihr auf. ›Du wirst auch nicht besser aussehen, wenn du tot bist.‹ Hatte ein Geistesgestörter sie ins Visier genommen?
Es hatte schon eingedunkelt, als Valerie nach Hause fuhr. Sie nahm heute nicht wie sonst den Fußweg am Fluss entlang, sondern blieb auf der Straße. Nun lasse ich mich doch einschüchtern, gestand sie sich ein, ein bisschen ärgerlich auf sich selbst. Sie war normalerweise