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mit jugendlichen betrunkenen Partygängern herumschlug, die sie beschimpften, oder ob sie sich nachmittags einer alten verängstigten Frau annahm, der auf dem Heimweg die Handtasche entrissen worden war – beides waren Facetten ihrer Arbeit, auf beide Situationen konnte sie sich sehr rasch einstellen. Die Arbeit im Quartier gefiel ihr. Sie wurde meist mit kleineren Delikten und Regelverstößen konfrontiert, mit Situationen, in denen die alltägliche Ordnung verletzt wurde und es ihr oblag, sie wiederherzustellen. Aber sie betrachtete diese Arbeit nicht als oberste Stufe ihrer Karriereleiter, denn sie war ehrgeizig. Zwei, drei Jahre würde sie weitere Erfahrungen sammeln, bevor sie sich beim Kommissariat Ermittlung oder beim Kommissariat Fahndung bewerben wollte.

      Als die beiden kleinen Mädchen die große Frau in der Uniform sahen, weinten sie noch mehr. Aber Zita Elmer wusste bereits Bescheid.

      »Ein Problem weniger«, sagte sie zufrieden. Sie liebte es, Fälle zügig zu lösen. »Der Vater der Kleinen hat angerufen. Drei und vier Jahre alt sind sie. Irena und Diana. Eben erst in der Schweiz eingetroffen. Durch die halb offene Wohnungstür abgehauen. Albanisch hätten Sie mit ihnen reden müssen. Na ja, kann ich auch nicht.« Sie wandte sich an die Mädchen. »Offenbar seid ihr zwei fixe kleine Abenteurerinnen, Irena und Diana. Muss der Papa halt besser auf euch aufpassen, was?«

      Die Mädchen, die aufmerkten, als ihre Namen fielen, schauten mit großen Augen die fremde Frau an und wurden still.

      Zita Elmer griff zum Telefon und rief den Vater an. Sie reichte das Telefon den Kindern weiter, die, ohne selbst den Mund aufzutun, hineinhorchten.

      »Er wird gleich kommen«, sagte Elmer. »Happy End in Sicht.«

      Valerie und Zita Elmer unterhielten sich noch ein paar Minuten, dann verabschiedete sich Valerie. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie Elmer von dem Drohanruf erzählen sollte, ließ es dann aber bleiben. Bevor Elmer hier gearbeitet hatte, war Beat Streiff da gewesen. Er hatte auf demselben Stuhl gesessen, der nun ihr Platz war. Auch der Schreibtisch war derselbe. Vor ein paar Jahren hatte Streiff zur Kriminalpolizei in der Zeughausstrasse gewechselt. Valerie schob den Gedanken an ihn rasch beiseite.

      2. Teil

      Valerie kam aus einer kurzen Mittagspause zurück. Spaziergang mit Seppli, eine Cola und ein Sandwich mit scharfer Salami und roter Paprika aus dem Paradicsom nebenan, im Gehen verzehrt. Sehr ungesund, hätte Lorenz, der Arzt war, erklärt. Aber der hatte ja schon länger nichts mehr zu sagen. Zudem, dachte Valerie trotzig, könnte ich auf das Salatblatt zwischen Brötchen und Salami und auf das Stück Paprika verweisen. Trotzdem kaufte sie rasch am Marktstand vor der Migros einen Apfel. Dann schob sie sich einen Nikotinkaugummi in den Mund. Sie war von Gauloises blau umgestiegen, als Lorenz ihr in einer ihrer innigeren und leidenschaftlicheren Phasen gesagt hatte: ›Ich verzeihe es dir nie, wenn du mit Mitte 50 Krebs bekommst.‹ Das hatte Valerie imponiert. Nun, mittlerweile hatte es sich so entwickelt, dass Lorenz sich kaum darum scheren würde, was mit ihr Mitte 50 sein würde. Ihr Kontakt war nach der Trennung abgerissen. Aber beim Kaugummi war sie geblieben.

      Markus war dabei, einem Kunden die neu eingetroffenen Cannondale-Mountainbikes vorzuführen. Der Kunde, ein junger Mann, schien sich auszukennen, fragte nach technischen Details, verglich die verschiedenen Modelle miteinander. Valerie deutete an, dass sie ins Büro hinunterginge und man sie, wenn nötig, rufen könne.

      Sie wollte Anzeigen entwerfen. Sie inserierte regelmäßig im Tagblatt, im Quartier-Anzeiger, im Tachles, in der Zeitung der orthodoxen Juden – da in Wiedikon ein großer Teil der jüdisch-orthodoxen Bevölkerung Zürichs wohnte – und in der Frauenzeitung. Lange hatte es ihr Spaß gemacht, in ihren Werbetexten mit ihrem Namen zu hantieren, Wortspiele zu kreieren. Aber das verbrauchte sich mit der Zeit. Gewisse klassische Slogans behielt sie bei, schlichte Aussagen wie ›Gute Räder bei Gut‹. Aber sie fand, sie musste ihre Palette etwas erweitern, und hatte vor, sich einem Brainstorming zu überlassen. Nach unzähligen durchgestrichenen Ideen, zerrissenen Blättern, verworfenen Slogans textete sie schließlich ›Warum wie auf Nadeln sitzen? – Satteln Sie Ihr Fahrrad bei uns‹, ergänzt durch ›Gute Sättel bei Gut‹, in kleinerer Schrift am unteren Rand.

      Sie hörte ein leises Klopfen und sah auf. Durch die Glasscheibe erblickte sie Adele Goldfarb und winkte sie herein.

      »Störe ich?«, fragte Adele und streichelte rasch Seppli.

      »Nein, komm nur, ich bin gerade fertig geworden.«

      Adele war zehn Jahre alt, wohnte in der Nachbarschaft und kam auf dem Heimweg von der Schule ab und zu bei ihr vorbei. Valerie hatte das Mädchen gern und freute sich, wenn sie kam. Sie war fröhlich, selbstsicher, aufgeweckt, wollte alles wissen. Die Porzellanmöwe fand sie toll. Valerie kannte drei ihrer älteren Brüder, die ebenfalls bei ihr ein und aus gegangen waren; Sruli, Alexander und Aron. Alle mit Löckchen vor den Ohren, kleinen Käppchen, einer Portion unbekümmerten Neugier und großer Diskussionslust. Es war ihnen bewusst, dass bei ihnen zu Hause andere Werte vertreten wurden als außerhalb, und sie erprobten gerne ihre Weltanschauung an den abweichenden Auffassungen von Valerie. Alexander hatte die Plastikdinosaurier in der Kinderecke entdeckt und wollte wissen, was das für Tiere seien. Valerie hatte ihm erzählt, dass sie vor über 100 Millionen Jahren auf der Erde gelebt hätten, dass sie riesengroß gewesen seien und man nicht genau wisse, warum sie ausgestorben sind. Das Alter der Erde war für Alexander aber nicht verhandelbar gewesen. Gott hat die Erde vor 5.766 Jahren geschaffen, da konnte es nicht vor viel, viel längerer Zeit Dinosaurier gegeben haben. Sicher nicht.

      Valerie, die nicht viel über die jüdischen Bräuche wusste, unterhielt sich gern mit den Kindern. »Warum dürft ihr nicht gleichzeitig Milch und Fleisch essen?«, fragte sie deshalb eines Tages Alexander.

      Der wusste Bescheid. »In der Tora steht, dass man ein Böcklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen darf«, hatte er erklärt. Und hatte mit kindlicher Logik hinzugefügt: »Das ist doch klar. Das Kleine soll die Milch seiner Mutter trinken.«

      »Wie ist es denn für euch, wenn wir Weihnachten feiern und auf den Plätzen große Weihnachtsbäume stehen?«, hatte sie sich ein anderes Mal erkundigt.

      »Wir haben auch schöne Feste«, hatte Alexander erzählt. »Im Winter haben wir Chanukka, das Lichterfest, da zünden wir Kerzen an. Und Geschenke geben wir einander an Purim. Dann verkleiden wir uns.« Die Kinder kamen offenbar ganz selbstverständlich zurecht mit den beiden Welten, in denen sie lebten.

      Die meisten Kinder der jüdisch-orthodoxen Familien im Quartier hatten panische Angst vor Seppli, überhaupt vor Hunden. Valerie hatte nie herausfinden können, warum. Die kleinen Goldfarbs waren die Ersten, die sich dem gefährlichen Mysterium Seppli näherten. Der Pionier war nicht Sruli gewesen, der Älteste, sondern Alexander, der Zweite. Er hatte eines Tages Seppli gestreichelt, zwei Tage später wieder. Am dritten Tag war Aron, der Kleine, mitgekommen, der seinen großen Bruder erst ungläubig bewunderte; ihm dann kurz entschlossen nacheiferte und Seppli ins grau gelockte Fell fuhr. Von da an war der Bann gebrochen. Um ihren Mut für sie selbst und die Eltern zu verewigen, hatte Valerie von jedem der Goldfarb-Buben ein Foto mit Seppli machen müssen. Irgendwann war Adele aufgetaucht. Drittklässlerin. Zahnlücke, frecher Blick, ein etwas zu langes Kleidchen für eine Neunjährige, fand Valerie.

      »Ich war mit meinem großen Bruder schon mal bei Ihnen«, hatte sie gesagt und sich gründlich umgesehen. »Sie, was ist das für ein Werkzeug? Was machen Sie damit?« Valerie hatte erklärt. Irgendwann war die Kleine mit dem Wunsch herausgerückt, wie ihre älteren Brüder mit Seppli fotografiert zu werden.

      »Klar«, hatte Valerie zugestimmt, den faulen Hund aufgescheucht und von den beiden vor dem Laden ein Bild gemacht. Stolz war Adele mit der Aufnahme abgezogen.

      Adele trug immer Strumpfhosen und langärmlige Blusen, sogar im Sommer. Valerie hatte sie gefragt, ob ihr nicht zu heiß sei.

      Die Kleine hatte gleichgültig die Schultern gezuckt. »Bei uns ist es halt so, alle Mädchen sind so angezogen. Und wenn ich groß bin, verdecke ich mir die Haare wie meine Mutter. – Es ist wegen unserer Religion«, hatte sie hinzugefügt. »Aber manchmal«, hatte sie Valerie anvertraut, »wenn es gar zu warm ist, kremple ich ein wenig die Ärmel hoch. Aber nur bis hier.« Sie deutete

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